Charles Michel
Charles Michel will nicht mehr Ratspräsident sein.
AFP/GEOFFROY VAN DER HASSELT

Nach der Ankündigung von Charles Michel, sein Amt als Ständiger Präsident des Europäischen Rates im Juli vorzeitig zurückzulegen, hat bei den Regierungen der Mitgliedsländer das Ringen um einen Nachfolger begonnen. In den Hauptstädten und wichtigsten EU-Institutionen werden bereits konkrete Namen zu Nachfolgern oder Nachfolgerinnen kolportiert.

Das protokollarisch höchste Amt in Europa – mit dem US-Präsidenten auf Augenhöhe – wird traditionell mit einem erfahrenen (Ex-)Regierungschef besetzt. Die 27 EU-Regierungschefs entscheiden das alleine, mit qualifizierter Mehrheit, ohne Parlament. Der Ständige Ratspräsident leitet alle EU-Gipfel, gibt die Tagesordnung vor, muss als "Chef der Chefs" die heikelsten politischen Differenzen zu Kompromissen bringen. Michels Vorgänger seit 2009, Donald Tusk aus Polen und Herman Van Rompuy aus Belgien, waren Politiker der höchsten Ebene.

Schwierige Balance

Auch jetzt sind prominente Namen im Spiel. Dem niederländischen Langzeitpremier Mark Rutte, wie Michel aus der Parteifamilie der Liberalen, werden ebenso gute Chancen eingeräumt wie Italiens Ex-Premier Mario Draghi oder dem Spanier Pedro Sánchez, der Dänin Mette Frederiksen oder der vor einem Jahr als Premierministerin abgewählten Sanna Marin.

Letztere drei sind Sozialdemokraten. Marin wird schon länger als mögliche gemeinsame Spitzenkandidatin in ihrer Parteifamilie bei den EU-Wahlen gehandelt. Die Ankündigung Michels ist ebenso umstritten wie überraschend. Denn an sich war geplant, dass die wichtigsten Jobs in EU und Nato, die nach den Europawahlen neu zu besetzen sind, in einer großen Paketlösung aufgeteilt werden. Dabei ist eine sehr schwer zu findende Balance zwischen Parteien, Länderinteressen, großen und kleinen Staaten zu finden.

Schielen nach Budapest

Es geht auch um die Spitzen der EU-Kommission, wobei die Frage, ob deren Präsidentin Ursula von der Leyen, eine deutsche Christdemokratin, sich für eine zweite Amtszeit bewirbt, ungeklärt ist. Das Parlamentspräsidium muss im Juli neu aufgeteilt werden, dazu kommt die Nachfolge von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, für die sich Mark Rutte interessiert. Der Belgier Michel, der bis Jahresende 2024 gewählt ist, hat nun, mitten in politisch schwieriger Zeit, der Union eine Personaldebatte beschert.

Die wird verschärft durch den Umstand, dass ausgerechnet der EU-skeptische Premier Viktor Orbán notfalls einspringen müsste, sollte man sich nicht auf einen Nachfolger einigen. Ungarn übernimmt ab 1. Juli für sechs Monate den Vorsitz im EU-Ministerrat. Das will außer Orbán keiner der EU-Regierungschefs.

Michels Motive sind einfach: Er will sich als Spitzenkandidat der wallonischen Liberalen bei den Europawahlen Anfang Juni um ein belgisches Mandat für fünf Jahre im Europäischen Parlament bewerben. Sein Amt als Präsident, das Ende November ausläuft, ist mit dem Abgeordnetenmandat unvereinbar. (Thomas Mayer aus Brüssel, 8.1.2024)