Möglicherweise ist Donostia (baskisch für San Sebastián) die ideale Stadt für ein Wochenende. Gerne auch mehr. Klein genug, um alles fußläufig zu erkunden, groß genug, um nicht provinziell zu sein. Am Horizont der Atlantik, im Hintergrund grüne Hügel, die sanft in die stahlblaue Brandung abfallen. An der muschelförmigen Bucht von Donostia öffnet sich eine gastronomische Perle, die zum Sehnsuchtsort für Gourmets aus aller Welt wurde. Warum hat sich gerade hier eine außergewöhnliche Esskultur entwickelt?

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Donostia an der "Playa de La Concha" ("die Muschel").
Foto: Christian Eidherr

Von den Ausläufern der Pyrenäen in den Golf von Biskaya hinab gedeihen Lebensmittel, die das Baskenland mit einer reichen Produktvielfalt nähren. Im Zusammenspiel mit Menschen, die das kulinarische Erbe zum konstituierenden Element der Identität erheben, entstand im Baskenland eine bemerkenswerte Küche. Die Leidenschaft für Kulinarik spiegelt sich im Sozialleben baskischer Männer wider, die sich in Clubs (Txokos) zum gemeinsamen Kochen treffen. Ende der 1970er-Jahre wurde die baskische Gastronomie über ihre Grenzen hinaus bekannt, als Spitzenköche um Juan Mari Arzak nach Vorbild der Nouvelle Cuisine die Nueva Cocina Vasca (Neue baskische Küche) begründeten. Die Produkte des Baskenlandes wurden in das internationale Rampenlicht gerückt und mit avantgardistische Kochtechniken inszeniert. Heute leuchten über Donostia und der näheren Umgebung 18 Michelin-Sterne. Angeblich sei die Anzahl der Sterne pro Quadratmeter höher als in Paris und werde nur von Kioto übertroffen. Die Dichte an Weltklasse hebt den kulinarischen Anspruch der gesamten Region, in der Alumni der Spitzengastronomie ihr erlerntes Handwerk an die nächste Generation weitergeben.

Schlendern und Schlemmen in Donostia

Der Legende nach begann alles mit Gilda – einem Holzspieß mit einer Olive, Sardelle und Chilischote. Ursprünglich wurden Pintxos (kleine Spieße) in den Bars von San Sebastián als einfache Happen serviert, um Alkohol besser zu vertragen. Über die Jahrzehnte entwickelte jedes Lokal Signature-Pintxos, die das elaborierte Pendant zu Tapas bilden. Zutaten und Techniken der Hochküche werden auf kleine Teller drapiert. So kann es schon passieren, dass man in eine Bar hineinstolpert und um eine Handvoll Euro einen Teller mit Produkten wie Taubenbrust, Seeigel oder Foie gras erhält. In Donostia findet man das kulinarische Glück stets hinter der nächsten Tür, wenn man abends durch die Innenstadt flaniert, in jeder Bar ein oder zwei Pintxos bestellt und sich selbst ein Gourmetmenü zusammenstellt.

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Gilda: Das Ur-Pintxo ist zu einem Symbol für Donostia geworden.
Foto: Christian Eidherr

Eine Institution in San Sebastián. Oben kleine Bar mit Pintxos, im Kellergewölbe ein Restaurant. An der Bar kann man nicht reservieren, schon vor Öffnung warten dutzende Menschen auf Einlass. Besser: gleich im Restaurant einen Tisch sichern. Die Gerichte sind rustikal, puristisch und kompromisslos in der Qualität. Die Weinkarte ist behutsam kuratiert und schüchtern kalkuliert. Drei Empfehlungen für einen Abend bei Ganbara: 1. Carabiniero mit Mayonnaise und Zitrone. 2. Lauwarme Steinpilze mit Foie gras, die am Tisch mit Eidotter vermengt werden und perfekt mit einem Chardonnay harmonieren. 3. Txuleta, medium rare: Steak von alten Kühen, die im baskischen Hinterland grasen und für ihr rot marmoriertes Fleisch mit einer gelben, wachsartigen Fettschicht geschätzt werden.

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Aller guten Dinge sind drei: Foie gras, Steinpilze und ein Eidotter werden zu einer vollmundigen Komposition vermengt.
Foto: Christian Eidherr

Diese Bar ist auf die Veredelung von Schweinefleisch spezialisiert. Höhepunkte: knuspriges Schweinsohr, das mit karamellisierten Zwiebeln gefüllt und wie eine Palatschinke eingerollt wird, in Bier mariniertes Spanferkel und Blutwurst auf einem Quittenmousse gebettet. Und weil der Atlantik nur wenige Gassen entfernt ist, gibt es in Schweinefett herausgebratenen Oktopus, der mit gegrilltem Grünkohl einen bitteren Gegenpart erhält. Zum Trinken? Am besten zwei bis acht Seideln, die in eiskalte, beschlagene Gläser gezapft werden.

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Im La Cuchara de San Telmo wird das Schweineohr wie eine Palatschinke aufgerollt. Muss man essen.
Foto: Christian Eidherr

Avantgardistische Pintxos mit Finesse als Botschafter der neuen baskischen Küche. Zum Beispiel gegrillte Jakobsmuscheln in einer Ajoblanco (kalte Suppe aus Mandeln und Knoblauch), die mit frittierten Algen sowie Sesam bestreut und durch Kaffeevinaigrette akzentuiert wird – ein großartiger Teller. Auch Wohlfühlessen wird bei Casa Urola luxuriös inszeniert: Taubenbrust mit einer Steinpilzsauce oder Bohneneintopf mit Foie gras. Weitere Höhepunkte sind gegrillte Artischockenherzen mit Kürbismousse sowie handgeschnittener Jamon, für den Casa Urola bekannt ist. Jeder dieser Teller kostet um die fünf Euro, und die Weine, die hier glasweise ausgeschenkt werden, fänden auch in einer Weinbegleitung eines Sternelokals einen würdigen Rahmen.

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Bei Casa Urola ist es hektisch und köstlich. Für Fotos bleibt kaum Zeit. Die Bohnen mit Foie gras waren heiß genug, um etwas länger zu überstehen.
Foto: Christian Eidherr

Moderne Bar im geschäftigen Belle-Époque-Viertel von San Sebastián. Das Personal ist jung, herzlich, und der Schmäh rennt. Die Bar Antonio bietet ein Best-of-Donostia, und man könnte hier gerne den ganzen Tag verbringen. Morgens sollte man auf keinen Fall die Tortilla verpassen. Sie gilt als die beste der Stadt und ist nach elf Uhr ausverkauft. Mittags schaut man auf einfache Pintxos und Sardellen vorbei, und sbends wird bei Antonio mit Finesse diniert. Zum Beispiel Jakobsmuschel mit Trüffelmousse oder mit Langustinen gefüllte Ravioli in einer Martinisauce. Großes Plus: Damit man wieder Energie schöpft, gibt es hier richtigen guten Espresso und Cava, der den Vergleich mit Champagner nicht scheuen muss. Man könnte sich bei Antonio einsperren lassen und wäre nicht unglücklich darüber.

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Highlights bei Antonio: Ravioli mit Langustine, Jakobsmuschel mit Trüffel, Ochsenschwanz.
Foto: Christian Eidherr

Expedition in den Golf von Biskaya

Selbst wenn die Lokale in San Sebastián so gut sind, dass man dort am liebsten im Arrest wäre, lohnt sich ein Ausflug in malerische Fischerdörfer an der Küste, in denen man mit Blick auf den Atlantik Wohlfühlessen genießt und im vielleicht besten Fischrestaurant der Welt den Golf von Biskaya erkundet.

Das alte Haus und das Meer: Casa Camara (ganz rechts im Bild).
Foto: Christian Eidherr

Etwa zwanzig Minuten außerhalb von San Sebastián öffnet sich eine Bucht mit einem kleinen Industriehafen und dem beschaulichen Fischerort Pasaia. Steinhäuser mit Holzgiebeln, die sich an einen steilen Hügel schmiegen, erinnern an alpine Gefilde. Wäre da nicht der Atlantik, über den einst baskische Seeleute bis nach Neufundland aufbrachen, um mit nahrhaften Fischen nach Pasia zurückzukehren. In einem dieser alten Fischerhäuser, nur wenige Zentimeter über Wasserspiegel, wird man im Restaurant Casa Camara – seit 1887 im Familienbesitz – bewirtet.

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Der Eintopf mit Meeresfrüchten ist ein Synonym für Wohlfühlessen am Meer.
Foto: Christian Eidheer

Während man die Wogen des Meeres beobachtet, Schiffe langsam vorbeigleiten und die halbe Speisekarte bestellt, weil alles so frisch und gut ist, versumpert man gerne mal den Nachmittag und vergisst die Wirren des Weltgeschehens. Da macht es auch nichts aus, wenn sich die Flut bedrohlich nähert, das Wasser überschwappt, und der Atlantik über die Schuhsohlen reicht. Man bleibt ruhig sitzen, trinkt einen weiteren Schluck Albariño und zerlegt einen saftigen Hummer, der zuvor aus einem Becken in den Speisesaal gehoben wurde. Nach der Rechnung reserviert man wieder und kehrt übermorgen zurück, weil man nicht genug bekommt von dem kontemplativen Ambiente. Außerdem wartet noch die andere Hälfte der Speisekarte mit verheißungsvollen Spezialitäten, wie Wangen vom Seehecht oder einem Eintopf mit Meeresfrüchten und Paprika, der als Synonym für Wohlfühlessen am Meer steht.

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Farm to table: Hummer wird aus einem Becken in den Speisesaal gehoben.
Foto: Christian Eidherr

In Getaria, einem malerischen Dorf, das über den Meeresklippen thront, liegt ein Restaurant, das vielen Gourmets als bestes Fischlokal der Welt gilt: Elkano. Der Golf von Biskaya bildet den Rahmen für ein Degustationsmenü, das sich den Witterungen und Fischern anpasst, die nur wenige Gassen weiter unten im Hafen von Getaria anlegen. In zehn Gängen wird das Meer mit Hinblick auf das kulinarische Potenzial seiner Bewohner erkundet. Exemplarisch dafür ist eine Rotbarbe, die von Kopf bis Schwanzflosse in ihre Einzelteile zerlegt und in chirurgischer Präzision wieder zusammengefügt wird, um jedes Stück einzeln erschmecken zu können. Die Leber etwa, klein wie ein Hemdknopf, aber groß im Geschmack, als ob sie Foie gras und Austern vereinen würde. Auf einem separaten Teller werden die frittierten Gräten serviert, weil die kompromisslos produktzentrierte Küche von Elkano beweist, dass Perfektion erst dann erreicht wird, wenn nichts mehr weggelassen werden kann.

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Viele Teile ergeben ein Ganzes: Die Rotbarbe wird zur Anatomielektion.
Christian Eidherr

Mit jedem Gang, von rohem Thunfischbauch über Garnelen-Ceviche bis zu Langustine mit Bisque, isst man sich dem Höhepunkt des Menüs entgegen: dem eineinhalb Kilogramm schweren Steinbutt, im Ganzen über Holzkohle gegrillt und nur mit Olivenöl und Salz gewürzt.

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Puristisch und kompromisslos in der Qualität: das Garnelen-Ceviche bei Elkano.
Foto: Christian Eidherr

Während der Patron des Hauses Aitor Arregui den Steinbutt filetiert und mit Leuchten in den Augen Stück für Stück dessen Besonderheiten erläutert, wird man Teil eines Rituals. "Der Steinbutt hat zwei Seiten. Die zum Meeresgrund zugewandte Seite ist heller und milder im Geschmack. Die kriegen meistens die Kinder", sagt Arregui, während er den gelatinereichen Saft des Steinbutts zu einer dichten Sauce anrührt. "Die der Sonne zugewandte Seite hingegen ist dunkler und pikanter. Die ist für Eltern. Und für Oma und Opa gibt es das Beste: den Kopf und die Wangen." Für Besucher von Elkano gibt es zum Glück alles. Die knusprigen Flossen mit ihren Röstaromen, das gallerthaltige Bauchfleisch mit seinen animierenden Bitternoten bis zu den zarten Filetstücken, die sich sanft von den Gräten lösen, die man am Ende ausschlürft, um an das köstliche Knochenmark zu gelangen.

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Für den Steinbutt ist Elkano seit 1964 bekannt. Der Fisch wird vor dem Restaurant in ein Gitter eingespannt und über Holzkohle gegrillt.
Foto: Christian Eidherr

Am Ende erklärt Aitor Arregui, der in zweiter Generation das Restaurant führt, was die Philosophie von Elkano ausmacht: "Wir sind Beobachter der Natur und in engem Austausch mit den Fischern. Der Geschmack wird durch Jahreszeit, Witterung und die Gezeiten beeinflusst. Nur mit jahrelanger Erfahrung können wir die beste Qualität auf den Tisch bringen und das Terroir von Getaria spiegeln." Womit wir wieder am Anfang wären: der gesegneten Lage des Baskenlandes und der kulinarischen Leidenschaft seiner Bewohnerinnen und Bewohner. (Christian Eidherr, 14.1.2024)