Philosoph Paul Feyerabend
Paul Feyerabend (1924–1994) war einer der unkonventionellsten Denker des 20. Jahrhunderts – und zudem ein Showman mit viel Sinn für Ironie.
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Wer im Internet nach "worst enemy of science" sucht, bekommt vor allem einen Namen vorgeschlagen: den von Paul Feyerabend. Diesen Beinamen erhielt der Denker 1987 in einer Publikation im Fachblatt "Nature". In dem Fachartikel unter dem Titel "Where science has gone wrong" wurde der Wissenschaftsphilosoph gemeinsam mit Karl Popper und Thomas S. Kuhn von zwei in England tätigen Physikern als "Verräter der Wahrheit" denunziert. Am schlimmsten aber sei Feyerabend, "der größte Feind der Wissenschaft".

Die wenig schmeichelhafte Zuschreibung machte in der Fachliteratur schnell Karriere. Im Jahr 2000 erschien unter diesem Titel – versehen mit einem Fragezeichen – sogar ein englischer Sammelband zu Ehren Paul Feyerabends. Die Texte waren entsprechend darum bemüht, das Gegenteil zu zeigen – was nicht allzu schwer ist. Zumal Feyerabend zeit seines Lebens immer wieder alle Vorwürfe der Wissenschaftsfeindlichkeit entschieden zurückgewiesen hatte. Was aber stimmt: Als Kritiker idealisierter Vorstellungen von Wahrheit, Vernunft, Fortschritt oder Rationalität war Feyerabend höchst einflussreich.

Umstrittener Bestseller

Seinen ambivalenten Ruf in der akademischen Welt hatte sich Feyerabend spätestens 1975 mit seinem Hauptwerk "Against Method" eingehandelt, das auf Deutsch unter dem Titel "Wider den Methodenzwang" und in 15 weiteren Sprachen erschien. Feyerabend, damals Professor an der Universität von Kalifornien in Berkeley, analysierte darin Schlüsselepisoden der Physikgeschichte wie Galileis Prozess und die Durchsetzung der Relativitätstheorie oder der Quantenphysik, um zu zeigen, dass es in der wissenschaftlichen Praxis nicht nur eine Methode gibt, sondern methodisch vieles möglich sei. Schon im Inhaltsverzeichnis des Buchs heißt es: "Der einzige allgemeine Grundsatz, der den Fortschritt nicht behindert, lautet: Anything goes."

Dieser Slogan in Verbindung mit seinem Bestseller, der in keinem der großen Wissenschaftsverlage, sondern bei New Left Books herauskam, machte Feyerabend weit über die Grenzen der Wissenschaftsphilosophie bekannt. In Fachkreisen hingegen wurden das provokante Werk und sein Autor für ihren methodischen Pluralismus und Relativismus eher heftig kritisiert. Einer, der sich davon nicht irritieren ließ, ist der mittlerweile emeritierte Philosoph Josef Mitterer (Uni Klagenfurt), der 1976 zum Studium zu Feyerabend nach Kalifornien ging und von diesem sehr beeindruckt war, wie er sich im Gespräch mit dem STANDARD erinnert: "Seine Seminare waren völlig anders als das, was ich bis dahin erlebt hatte – völlig unhierarchisch und zum kritischen Denken motivierend."

Denker (in) der Revolte

Feyerabends Lehr- und Denkstil war damals gewiss von der Atmosphäre Berkeleys geprägt worden, eines der Zentren der Studentenrevolution in den USA und der kalifornischen Gegenkultur, wo er ab 1958 arbeitete. Mitterer, der mit seinem Non-Dualismus eine erkenntnistheoretisch noch radikalerer Position als Feyerabend vertritt, weist aber auch darauf hin, dass umgekehrt Feyerabends Einfluss auf den damaligen Zeitgeist nicht zu unterschätzen sei. So habe er damals zahlreiche Beiträge für anarchistische Zeitschriften wie "Unter dem Pflaster liegt der Strand" oder "Neues lotes Folum" geschrieben.

Dass Feyerabend zu einem der einflussreichsten, aber auch umstrittensten Wissenschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts werden sollte, war alles andere als geplant, sondern eher einer Serie von Zufällen geschuldet, wie er auch in seiner lesenswerten Autobiografie "Zeitverschwendung" (im englischen Original "Killing Time") betont. Am 13. Jänner 1924 in Wien geboren, entwickelt der Hochbegabte schon als Gymnasiast Interesse an der Physik und liest alles, was ihm unterkommt. Seine andere große Leidenschaft gilt der Musik, dem Gesang und der Oper.

Gleich nach der Matura wird er 1942 jedoch zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und eineinhalb Jahre später als Offizier an die Ostfront versetzt. Beim Rückzug treffen ihn drei Kugeln in die Wirbelsäule – die Folge sind eine lebenslange Gehbehinderung, ständige Schmerzen und Impotenz. Die Karriere als Opernsänger scheitert aufgrund der Kriegsverletzungen. Was davon bleibt, sind Feyerabends schöne Tenorstimme, seine Podiumspräsenz als Vortragender und seine Vergleiche von Kunst und Wissenschaft.

Inkommensurabilität (mit Wien)

Nach Studien vor allem der Physik und Philosophie an der Universität Wien und dank anregender Kontakten bei den Hochschulwochen Alpbach will er Anfang der 1950er-Jahre nach England zu Ludwig Wittgenstein, der aber zuvor stirbt. Also geht er nach London zu Karl Popper, von dem er zwar einige Bücher ins Deutsche übersetzt, mit dem er aber nicht allzu gut auskommt. Nach einer Stelle an der Uni Bristol landet er in Berkeley, wo er dem jungen Kollegen Thomas S. Kuhn begegnet. Beide entwickeln Anfang der 1960er-Jahre mehr oder weniger unabhängig voneinander das Konzept der Inkommensurabilität: Wissenschaftliche Theorien oder Paradigmen können miteinander völlig unvereinbar sein – ähnlich wie die Konzepte von Welle und Teilchen in der Quantenphysik, von der auch andere Ideen Feyerabends offensichtlich geprägt sind.

Noch vor Erscheinen von "Against Method" hatte sich Feyerabend damit in Fachkreisen längst einen Namen gemacht – aber auch als Enfant terrible des akademischen Betriebs. Dennoch erhielt er neben Berkeley, wo er bis zu seiner Emeritierung 1989 lehrte, unter anderem in Berlin, London, an der Yale University oder in Auckland Professuren. Einladungen in Wien hingegen blieben aus, obwohl Feyerabend damals gerne zurückgekehrt wäre, wie sich Josef Mitterer erinnert. Das sollte in typischer österreichischer Manier erst nach seinem Tod im Jahr 1994 passieren und in ähnlicher Form wie bei seinem Widersacher Popper: Der große Wiener Denker erhielt ein Ehrengrab in seiner Geburtsstadt – anders als jene eher kleingeistigen Philosophieordinarien, die seine Rückkehr nach Wien hintertrieben hatten.

Vorlesungen an der ETH Zürich

An der renommierten ETH Zürich hingegen wollte man Feyerabend noch zu Lebzeiten haben, wo er ab 1979 in den Sommersemestern unterrichtete. Und auch hier ging es alles andere als konventionell zu. Mitterer verweist etwa auf die Veranstaltungsreihe "Nutznießer und Betroffene von Wissenschaft", die auch als Buch erschien. Da traten Agronomen ebenso auf wie Mediziner oder Juristen. "Seine Interessen waren extrem weit gefächert", sagt Mitterer, "dennoch hat er nie geschwätzt." Feyerabend sei ein "unglaublich sorgfältiger Denker" gewesen, der "nach außen hin natürlich auch ein Showman war und viel Sinn für Ironie hatte. Diese Kombination haben viele seiner akademischen Kollegen nicht ausgehalten."

Titelbild Buch
Frisch erschienen: Eine alte Vorlesung Feyerabends an der ETH Zürich aus dem Jahr 1985 wurde aus Anlass des 100. Geburtstags erstmals zugänglich gemacht und mit einem instruktiven Nachwort versehen.
Suhrkamp Verlag

Ein wenig davon lässt sich auch im neuen Band "Historische Wurzeln moderner Probleme" nachlesen, der kürzlich aus Anlass von Feyerabends hundertstem Geburtstag erschienen ist: Es sind die Transkripte einer zwölfteiligen Vorlesung, die der Denker im Sommersemester 1985 unter diesem Titel an der ETH Zürich hielt und in der er einmal mehr seine Kritik am abendländischen Rationalismus ausbreitet – provokant, anekdotenreich, anregend und abschweifend.

Feyerabend und die Impfgegner

Der Band ist nicht nur eine Zeitreise zurück in die 1980er-Jahre. Er zeigt auch, wie viele der damaligen Probleme – wie die atomare Bedrohung – auch heute noch aktuell sind. Dass dieses "befreiende Denken" (Mitterer) heute von manchen Impfgegnern und anderen Querdenkern für ihre Zwecke vereinnahmt wird, sei hingegen unangebracht, meinen der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner und der Philosoph Michael Hampe (beide ETH Zürich) in ihrem instruktiven Nachwort zu den Vorlesungen.

Für Feyerabend sei es sehr wohl opportun, Klimawandelleugnung oder Impfverweigerung zu verwerfen, "sofern es darum geht, die Bewohnbarkeit der Erde und die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen". Zudem habe er nie bezweifelt, "dass es in spezifischen lebensweltlichen und wissenschaftlichen Konstellationen besseres und schlechteres Wissen gibt", schreiben Hampe und Hagner, der quasi Nachfolger Feyerabends am Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte der ETH Zürich ist.

Bleibt nur noch die Frage, was von Feyerabend zu seinem hundertsten Geburtstag bleibt, der mit vielen Veranstaltungen begangen wird. Josef Mitterer, der selbst ein kleines Feyerabend-Fest an der Uni Innsbruck organisiert, ist angesichts dieser posthumen Vereinnahmungen skeptisch: "Man wird gelehrte Vorträge halten und ein paar seiner Thesen prüfen, ob sie noch taugen", aber das werde Feyerabend nicht wirklich gerecht. "Viel wichtiger ist, dass die Leute aufgrund dieses Jubiläums heuer wieder Feyerabend lesen und sich auf Youtube Videos von ihm anschauen. Was sie draus machen, das ist dann jedem selbst überlassen." (Klaus Taschwer, 13.1.2024)

Feyerabend in Denk-Aktion:
1993 in einem legendären Gespräch mit seinem Kollegen Rüdiger Safranski in Rom.
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