Religion und Naturwissenschaften werden oft einander gegenübergestellt – ein Kontrast, den viele gläubige Forscherinnen und Forscher gar nicht als solchen wahrnehmen. Welche religiös geprägten Wertvorstellungen man hat oder ob man an höhere Entitäten wie einen Gott (oder mehrere) glaubt, spielt im Wissenschaftsalltag oft bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Doch mitunter sorgt eine Vermengung für Skepsis oder gar Desinformation.

Ein Beispiel dafür sind pseudowissenschaftliche Lehrmaterialien zur indischen Mondlandung, die in Schulen zum Einsatz kommen und auf religiösen Texten basieren. Die Evolutionstheorie wurde bereits aus Lehrbüchern verbannt. In den USA und auch in Europa sind es radikalkonservative christliche Gruppen, die nicht nur gegen queere Menschen wettern und für Abtreibungsverbote lobbyieren, sondern auch etwa Schulbuchinhalte zur Evolutionslehre mit Warnhinweisen versehen und den Klimawandel infrage stellen.

Aktuell beschäftigt der skurrile Fall eines Kinderarztes in der Türkei die nationalen Medien. Hüseyin Çaksen, der an der Necmettin-Erbakan-Universität in der Stadt Konya forscht, veröffentlichte mehrere Studien in wissenschaftlichen Fachjournalen mit oft religiösem Einschlag, von denen einige nun zurückgezogen wurden.

Porträtfoto des türkischen Kindermediziners Hüseyin Çaksen von der Necmettin Erbakan Üniversitesi in Konya
Hüseyin Çaksen, Mediziner für Kinderheilkunde, wurde nun durch fragwürdige Publikationen bekannt.
Necmettin Erbakan Üniversitesi

Çaksens Forschungsarbeit ist durchaus bemerkenswert: Er war an rund 300 Studien beteiligt, damit wurde er laut der Datenbank Scopus etwa 3.000-mal zitiert. Dabei behandelt er allerdings nicht nur Kindermedizin, sondern auch Themen, die bestenfalls in Randbereiche fallen. 2023 und 2022 veröffentlichte der Pädiater in einschlägigen Fachmagazinen Arbeiten, die sich den Titeln nach etwa mit religiösen Bewältigungsstrategien auf der Neugeborenen-Intensivstation, aber auch Exorzismus (oder heilsame Rezitationen) bei Krebspatienten und historischen Anmerkungen des Science-Fiction-Autors H. G. Wells über islamische Psychologie befassen. Eine weitere Arbeit erinnert an den biblischen Abraham, der seinen Sohn Isaak (beziehungsweise Ismael) Gott opfern wollte – als "Beispiel der Hingabe (oder: Unterwerfung) für heutige Kinder und Eltern".

Keine "sexuellen Objekte der Begierde"

Angesichts der Schnittstelle von Verhaltensregeln, Religion und Wissenschaft fällt eine Publikation auf, die angibt, dass das traditionelle Kopftuch (Hijab) "jugendliche Mädchen und Frauen vor sexueller Belästigung schützt". Gemäß der Kategorie "View" (Ansicht) handelt es sich um keine wissenschaftliche Datenerhebung im "Journal of Pediatric Neurology". Ziel der Diskussion im Artikel ist zu vermitteln, dass "der Hijab nicht nur für Individuen wichtig ist, sondern auch für Gesellschaften".

Hijab-Trägerin in sportlicher Kleidung bei einem Tennisturnier
Als Hijab oder Hidschab wird meist ein Kopftuch bezeichnet, das Haare und Hals bedeckt und das Gesicht freilässt. Will die Trägerin damit nicht gerade Sport betreiben wie im Foto, wird es meist mit einem langen Kleid (Abaya) kombiniert. Viele Frauen tragen dies aus muslimisch-religiösen oder kulturellen Gründen, eine Trägerin wird als Hijabi bezeichnet.
Javier Garcia/IMAGO/Shutterstock

Die durchklingende Grundlage, auf die sich der Text stützt, lautet: Hijab-Trägerinnen haben den Eindruck geteilt, dass sie "am Arbeitsplatz seltener sexueller Belästigung ausgesetzt sind, wenn sie sich bescheiden kleiden und ihr Haar bedecken". Die Stichprobengröße dieser Erhebung ist unbekannt. "Der Hijab befreit die Frauen davon, als sexuelle Objekte der Begierde betrachtet zu werden oder nach ihrem Aussehen oder ihrer Körperform und nicht nach ihrem Verstand und ihrer Intelligenz beurteilt zu werden", heißt es im Artikel. Die Frauen hätten zudem angegeben, "Selbstachtung und Würde zu empfinden, wenn sie das Kopftuch im Einklang mit ihren persönlichen moralischen Überzeugungen tragen".

Richtig angezogen

Solche Empfindungen tragen gewiss bei manchen Hijabi dazu bei, dass sie das Kopftuch tragen. Gleichzeitig ist in der Veröffentlichung die wissenschaftliche Basis, darüber zu diskutieren, äußerst dünn. Berücksichtigt werden müssten etwa auch der gesellschaftliche Kontext und etwaiger Druck, unter dem Frauen ihre Aussagen trafen.

Dennoch wird daraus abgeleitet: "Wir glauben, dass der Hijab wichtig ist, um heranwachsende Mädchen vor sexueller Belästigung zu schützen. Daher schlagen wir vor, dass schulische Programme zum Tragen des Hijab entwickelt werden sollten, um sexuelle Belästigung von heranwachsenden Mädchen zu verhindern, unabhängig von den religiösen Überzeugungen, Kulturen und sozialen Positionen der Schülerinnen." Hüseyin Çaksen veröffentlichte den Text gemeinsam mit der Psychologin Feyza Çaksen (die zumindest laut Profilfotos auf Therapieplattformen selbst keine Hijab-Trägerin ist). Argumentativ reiht sich der Vorschlag freilich in die Empfehlungen ein, dass sich Frauen nur "ordentlich" – in diesem Fall gemäß streng religiöser Sitte – anziehen müssten, um nicht belästigt zu werden und sogar etwas für die eigene Gesundheit zu tun. Die Verantwortung liegt demnach nicht bei dem Belästiger, sondern bei der Belästigten, die durch aufreizende Kleidung "selbst schuld" sei.

Geschenk, Prüfung oder Strafe Gottes

In einem weiteren Artikel in dieser Fachzeitschrift schreibt Mediziner Çaksen über die neurodegenerative Erkrankung Multiple Sklerose (MS). In dem Review-Artikel, der quasi den wissenschaftlichen Stand der Dinge zusammenfassen sollte, geht es um die Bedeutung von Religion und Spiritualität für Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose. Wiederum ist dies ein Thema, das durchaus mit wissenschaftlichen Methoden aufgearbeitet werden kann. Doch der Kinderarzt schreibt: "(Zweitens) sind wir der festen Überzeugung, dass die Hauptursache der Krankheit in manchen MS-Patienten übernatürliche Gründe hat und etwa ein Geschenk, eine Prüfung oder eine Strafe Allahs ist – auch wenn dies nicht wissenschaftlich bewiesen werden kann."

Diese Textstelle strich auch der Biologe Urartu Şeker von der Bilkent-Universität in Ankara auf der Plattform X (einst Twitter) kritisch hervor. Er hält es für "gelinde gesagt unhöflich", dass das Leiden der Betroffenen als Strafe oder Test Gottes bezeichnet wird. Gleichzeitig sei es "entsetzlich, dass er diesen Unsinn in einem Artikel veröffentlichen kann" und der Autor trotz "Wissenschaftslästerung" Professor geworden sei.

In der Folge wurden Medien auf die Publikationen aufmerksam und sieben von Çaksens Veröffentlichungen zurückgezogen, wie die Plattform "Retraction Watch" berichtet. Sie erschienen in drei verschiedenen Fachmagazinen, die von der World Pediatric Society herausgegeben werden. Dahinter steht die Thieme-Gruppe, ein Verbund aus Wissenschaftsverlagen mit Sitz in Stuttgart und New York. Auf der Verlagsseite findet sich bei den entsprechenden Arbeiten jeweils der kurze Vermerk, dass der Artikel "zurückgezogen wurde, da er keine wissenschaftliche Grundlage hat". Erstaunlich ist, dass dies nicht bereits im Zuge der Fachbegutachtung durch Kolleginnen und Kollegen (Peer Review) aufgefallen war.

Engel beim Erdbeben

Bisher noch nicht zurückgezogen wurde ein Leitartikel desselben Verlags (aus dem "Journal of Child Science"), in dem der Kindermediziner vor einem Jahr einen "spirituellen Blick auf das große Erdbeben in der Türkei" lieferte. Darin zitiert Çaksen Koran-Stellen und lässt in langen Sätzen die Grenze zwischen Zitat und seinen augenscheinlich daraus abgeleiteten Ansichten verschwimmen. Er erwähnt Helferinnen und Helfer, die noch Tage nach dem verheerenden Beben lebende Opfer aus den Trümmern bargen, und setzt sie in Zusammenhang mit Engeln und Dschinns, die religiösen Texten zufolge aus Licht und Feuer geschaffen wurden und ihre "wahre Form" daher für das menschliche Auge unsichtbar sei. Der Mediziner kommt zum Schluss: "Diesen islamischen Lehren zufolge war die Schwester, die die fünfjährige Überlebende der Erdbebentrümmer mit Nahrung und Wasser versorgte, wahrscheinlich ein Engel."

Derartige Publikationen dürften selbst in religions- und literaturwissenschaftlichem Kontext fragwürdig erscheinen. Weshalb sie als Vorwort eines Fachblatts für Diagnose und Behandlung von Kinderkrankheiten herangezogen werden, müssten sich nicht nur der Autor, sondern auch Verlag und Universität fragen. Die Plattform "Retraction Watch" erhielt bisher keine Antwort auf Anfragen an Çaksen sowie an den Chefredakteur des "Journal of Pediatric Neurology".

Systematische "Desinformation"

Die Universität des Mediziners veröffentlichte immerhin eine Stellungnahme zur öffentlichen Debatte, die vor allem in den sozialen Medien aufgekommen sei. Sie verweist auf die unabhängige Fachbegutachtung, die die Artikel durchlaufen hätten, und die Offenheit bezüglich wissenschaftlicher Kritik. Diese "Kultur der Kritik" sei ein natürlicher Prozess in der wissenschaftlichen Forschung, die Diskussion solle entsprechend in Fachmedien geführt werden. Gleichzeitig habe Çaksen in seinem Fachgebiet bedeutende Beiträge geleistet. Im Spital wende man bei MS-Erkrankungen jedenfalls "die neuesten Erkenntnisse und Methoden an".

Die Universität bittet zudem "die Öffentlichkeit um Verständnis, dass das Thema nicht durch systematische Desinformationsaktivitäten bewertet werden sollte". Diese hätten sich gegen die Wissenschaft, die Universität und den verstorbenen türkischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan, nach dem die Hochschule benannt ist, gerichtet.

Hier sei zur Kontextualisierung die Anmerkung erlaubt, dass Erbakan als politischer Ziehvater von Recep Tayyip Erdoğan angesehen wird. Zu seinen durchaus radikalen Auffassungen gehört die Ansicht, dass nur der Islam die "gerechte Ordnung" der Menschheit herstellen könne. Nicht nur in diesem gesellschaftlichen Zusammenhang, aber insbesondere dort ist eine wissenschaftliche Rechtfertigung der Verpflichtung zu religiösen Praktiken mit höchster Vorsicht zu betrachten, wie die Berichterstattung zum Fall erahnen lässt. Ob es um Kleidervorschriften für Frauen geht, wie sie derzeit auch im iranischen Regime mit Brutalität durchgesetzt werden, oder um die bedenkliche Erklärung, Normalisierung oder "Göttlichkeit" schwerer Krankheiten. (Julia Sica, 12.1.2024)