STANDARD: Sie sind EU-Abgeordneter und in einer Doppelspitze mit der Französin Mélanie Vogel Co-Chef von Europas Grünen, wo insgesamt 39 Parteien aus 34 Ländern vertreten sind. Warum bewerben Sie sich bei den Europawahlen in Österreich eigentlich nur um Platz zwei auf der Wahlliste, nicht um die Spitzenposition?

Waitz: Ich habe das nicht völlig ausgeschlossen. Aber wenn man sich die Wähler und Wählerinnen der Grünen ansieht, so sind das im Speziellen junge Leute und zu einer größeren Mehrheit Frauen. Ich halte es für wünschenswert und erfreulich, wenn wir mit einer weiblichen Spitzenkandidatin antreten können. Das unterstütze ich sehr stark.

Thomas Waitz
Der Steirer Thomas Waitz ist seit 2019 Co-Vorsitzender der Europäischen Grünen Partei.
EPA

STANDARD: Werden Sie mit ihr im Wahlkampf als Doppelspitze antreten?

Waitz: Ich arbeite seit sechs Jahren als Abgeordneter im Europäischen Parlament, bin also der Routinier, habe meine Rolle zu spielen im Wahlkampf. Ein weiterer Grund ist, dass ich als Parteichef für die gesamte europäische Wahlbewegung zuständig bin. Da bin ich stark gefordert mit internationalen Verpflichtungen, muss viel reisen zu den kleineren Parteien in anderen Ländern, die unsere Unterstützung brauchen.

STANDARD: Die anderen Parlamentsparteien* in Österreich treten alle mit einem Mann an der Spitze an, war das einer der Gründe?

Waitz: Es muss eine Kandidatin sein, die das Potenzial hat, die Menschen zu motivieren, die Grünen zu wählen. Frausein allein ist kein Programm. Aber es ist definitiv mein Wunsch.

STANDARD: Kennen Sie schon den Namen dieser Frau?

Waitz: Es gibt Gespräche mit Lena Schilling. Die letzte Entscheidung liegt bei ihr. Wenn sie sich entscheidet, als Spitzenkandidatin zur Verfügung zu stehen, dann gehe ich gerne als Nummer zwei. Die Entscheidungen trifft am Ende der Bundeskongress der Grünen, es gibt eine basisdemokratische Wahl.

STANDARD: Ihre Wunschkandidatin?

Waitz: Sie hat das Potenzial, einen grünen Wahlerfolg mitzugestalten. Die Klimabewegung Fridays for Future hat es geschafft, Klimaschutz in die Breite der Gesellschaft zu tragen. Sie hat dann gesehen, da tut sich etwas auf der europäischen Ebene, Stichwort Green Deal. Diese Generation erkennt nun, dass die Entscheidungen in der Politik zu treffen sind, man muss sich einbringen. Das finde ich gescheit.

STANDARD: Schilling ist inzwischen prominent, hat eine Kolumne in der "Kronen Zeitung". Keine Sorge, dass sie Ihnen die Show stiehlt?

Waitz: Ich freue mich, wenn sie mir die Show stiehlt, dann macht sie ihre Arbeit gut. Es geht um öffentliche Präsenz.

STANDARD: Wer kommt auf Platz drei?

Waitz: Das ist noch sehr offen, jede und jeder kann sich um einen Platz auf der Liste bewerben, so wie ich auch. Auch hier entscheidet der Bundeskongress.

STANDARD: Zu Ihnen: Hat sich Ihre Sicht auf die Politik der Grünen in Österreich verändert, seit Sie Parteichef auf europäischer Ebene sind?

Waitz: Das ist durchaus ein Spannungsfeld. Mein Wahlkreis ist Österreich, ich fühle mich also den Wählerinnen und Wählern in Österreich ganz besonders verpflichtet. Bei bestimmten Fragen stimme ich zum Beispiel anders ab als meine Fraktion, wenn etwas für Österreich bedeutsam ist, etwa in Fragen der Atomenergie oder bei der Neutralität.

STANDARD: Wo gibt es noch Unterschiede?

Waitz: Der auffälligste Unterschied ist: Wir sind in Österreich ein relativ wohlhabendes Land, wo es nur für wenige Bürgerinnen und Bürger eine Frage ist, wie man ein warmes Essen auf den Teller bekommt, ganz anders als in Osteuropa zum Beispiel. Unsere Institutionen funktionieren gut im Vergleich mit jenen anderer Länder. Das heißt, bei Grünen-Wählern in Osteuropa oder auch in Südeuropa ist die soziale Frage viel bedeutender als in Österreich.

STANDARD: Ist es nötig, dass sich die Grünen inhaltlich verbreitern, über Ökothemen hinaus?

Waitz: Es ist unbedingt notwendig, den Green Deal und die ökologische Umstellung mit sozialpolitischen Maßnahmen zu flankieren. Wir überlegen bei jeder Maßnahme, jedem Gesetz, was das für die breite Masse bedeutet. Sind die Dinge machbar? Oder fühlen sich Bürgerinnen und Bürger überfordert? Überforderung würde weder etwas für die ökologische Politik noch für die gesellschaftliche Dimension bringen.

STANDARD: Stichwort Chaos um den Heizungstausch in Deutschland – die Leute müssen sich das leisten können.

Waitz: Dort ist es vor allem die Uneinigkeit in der Koalition, warum es nicht funktioniert. In Österreich hat man in der Koalition von ÖVP und Grünen trotz unterschiedlicher Herangehensweisen gesehen, was man leisten kann, wenn Angebote und entsprechende Fördermaßnahmen kommen, wie etwa beim Verkehr. Anstatt zu sagen, dass man nicht mehr mit dem Auto fahren darf, machen wir den öffentlichen Verkehr leistbar und attraktiv und investieren; so kann man viel mehr Menschen gewinnen, da mitzumachen. Am Ende ist Klimapolitik immer auch Sozialpolitik. Beides muss zusammengedacht werden.

STANDARD: Also müssen die Grünen stärker als bisher auf soziale Fragen, auf Sozialpolitik setzen. Was noch?

Waitz: Absolut. Wir können die sicherheitspolitische Lage in Europa nicht ignorieren. Ich selbst komme aus der Friedensbewegung. Mein Ideal ist immer noch der Pazifismus. Aber als Realpolitiker muss ich zähneknirschend anerkennen, dass dafür gerade nicht die richtige Zeit ist angesichts der illegalen, völkerrechtswidrigen Invasion Putins in der Ukraine. Russland wirft die ganze Nachkriegsordnung über den Haufen.

STANDARD: Das heißt was?

Waitz: Dem muss man etwas entgegenhalten. Wir müssen uns überlegen, wie wir zu einer Friedensordnung kommen, die funktioniert. Da können wir nicht jenen, die das mit Füßen treten, einen Freipass geben.

Lena Schilling
Wird die Klimaaktivistin Lena Schilling Spitzenkandidatin der Grünen für die EU-Wahl?
Standard/Heribert Corn

STANDARD: Wie sieht grüne Sicherheitspolitik aus?

Waitz: Zuerst einmal heißt das, dass wir die Ukraine zu unterstützen haben. Artikel 51 der UN-Charta sagt klar, dass es eine Ausnahme vom Gewaltverzichtsgebot gibt, wenn ein Land in den international anerkannten Grenzen unprovoziert angegriffen wird. Die Ukraine hat jedes Recht, sich militärisch zu verteidigen. Und es folgt aber aus der UN-Charta eine moralische Verpflichtung der Länder, die Ukraine dabei zu unterstützen. Es müssen nicht alle gleich Waffen schicken, es gibt es viele Möglichkeiten, da kann sich Österreich nicht wegducken. Ich bin dazu bereit, auch wenn ich selbst ein pazifistisches Ideal habe.

STANDARD: Was fordern Sie zur europäischen Sicherheitspolitik?

Waitz: Die europäischen Staaten haben die zweithöchsten Militärausgaben der Welt, fünfmal mehr als Russland. Wir bekommen dafür aber nicht eine Sicherheitsarchitektur, die wirklich funktioniert. Jedes Land hat seine eigene Militärinfrastruktur, es passt alles nicht zusammen.

STANDARD: In der Nato heißt das Programm dazu "Zusammenlegen und teilen", Synergien nutzen.

Waitz: Das findet aber in Europa nicht statt. Das muss noch viel mehr passieren, gemeinsame Beschaffung zum Beispiel. Da wird viel und ineffizient Steuergeld verschwendet, sodass wir nicht mehr Sicherheit bekommen.

STANDARD: Wenn man bedenkt, dass der erste grüne EU-Abgeordnete, Johannes Voggenhuber, noch strikt für Neutralität war und gegen jede gemeinsame Militärpolitik, sind die Grünen einen weiten Weg gegangen.

Waitz: Ich glaube, es ist erfreulich, wenn eine politische Partei die Realitäten, die sich nun einmal auf dem Planeten abspielen, anerkennt und Lösungen für diesen Planeten sucht. Wir können nicht ideologisch fixiert irgendwelchen ehemaligen Beschlüssen hinterherlaufen. Wir müssen uns weiterentwickeln.

STANDARD: Jetzt haben wir neben Klima und Energie auch Soziales und Sicherheit. Europa zwingt den Grünen auch starkes Engagement in Sachen Migration, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auf. Wie wichtig wird das im Wahlkampf?

Waitz: Die Migration ist eine Frage von Grund- und Menschenrechten. Dafür müssen wir Leitplanken haben, innerhalb derer wir Lösungen finden, sowohl für die Zuwanderung als auch für das Asylwesen. Die Wahrheit ist ja, dass Europa ohne Zuwanderung schon längst ein ökonomisches Problem hätte. Wir brauchen sie. Sie hat volkswirtschaftlich etwas Positives gebracht. Ebenso müssen wir beim Asylwesen genau hinschauen. Aber klarerweise müssen diese Prozesse in einem rechtsstaatlichen Rahmen stattfinden. Es muss Ordnung herrschen in diesen Prozessen.

STANDARD: Den Grünen wirft man vor, dass sie die Grenzen für alle öffnen wollen.

Waitz: Menschlich zu sein sollte nicht zu einem Vorwurf gemacht werden. Grüne setzen sich nicht dafür ein, alle Grenzen aufzumachen. Wir treten dafür ein, dass Verfahren nach rechtsstaatlichen Prinzipien und Menschenrechten geführt werden.

STANDARD: Das heißt aber, dass Gesetze einzuhalten sind, dass etwa jemand, der kein Aufenthaltsrecht in Europa hat, den EU-Raum auch wieder verlassen muss.

Waitz: So ist es, das ist Rechtsstaatlichkeit. Es gibt aber andere Zugänge, wie Menschen in eine solche Lage kommen. Ich sehe auch, dass Menschen in die Illegalität gedrängt werden oder dort gehalten werden, auch um sie auszubeuten. Migration ist nicht das größte Problem, das die Europäische Union hat, Rechte und Konservative spielen es künstlich hoch, für ihre Sündenbockpolitik. Die Klimakrise und die Folgen und ob Europa wirtschaftspolitisch den Anschluss an die globalen Dynamiken schafft, das sind die viel entscheidenderen Fragen.

STANDARD: Die Fragen sind eng verwoben.

Waitz: Auch in der Landwirtschaft, ob wir da noch produzieren können und mit welchen Methoden. Europa ist weder reich an Ressourcen, noch haben wir die größten Populationen. Es wird sich die Frage stellen, ob wir technologisch die Nase vorn haben können, wenn es um Produkte der Zukunft geht. Da haben wir den Anschluss fast schon verpasst. Wir tun unser Bestes, um dabei wieder aufzuholen.

STANDARD: Wird die neue Kommission den Green Deal und die Ökologisierung der europäischen Wirtschaft weiter so betreiben, wie das von Ursula von der Leyen seit 2019 begonnen wurde?

Waitz: Davon bin ich überzeugt. Es geht dabei auch nicht nur um Anpassung an den Klimawandel, um Reduktion der Emissionen. Es geht massiv um die energiepolitische Abhängigkeit Europas. Man hat verstanden, dass es wirtschaftspolitisch riskant ist, sich von autoritären Regimen auf der ganzen Welt abhängig zu machen. Österreich gibt pro Jahr 20 Milliarden Euro für Energie aus. Wenn es uns gelingt, dieses Geld im eigenen Wirtschaftssystem zu halten, bringt das volkswirtschaftlich Vorteile. Es geht dabei um Lebensfragen, um Gesundheit, um Wohlstand.

STANDARD: Werden die Grünen eine zweite Amtszeit von Ursula von der Leyen unterstützen?

Waitz: Wir im Parlament gehen alle davon aus, dass von der Leyen als Spitzenkandidatin für die Christdemokraten antreten wird und auch wieder als Präsidentin zur Verfügung stehen wird. Warum man das nicht bekanntgibt, weiß ich nicht. Ob wir sie unterstützen, wird von ihrem Programm und den Verhandlungen nach den Wahlen abhängen. (Thomas Mayer, 20.1.2024)