Chemnitz, Demonstration
Im sächsischen Chemnitz gab es bereits zwei Kundgebungen gegen Rechtsextremismus. Bei der ersten kamen statt 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern 12.000. Es soll noch nicht vorbei sein, weiterer Protest ist in den nächsten Wochen geplant.
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Von oben betrachtet sieht vieles bekanntlich schöner aus. In dieser Woche trug dazu in Chemnitz der Aufzug von Karstadt in der Innenstadt bei. Der Lift ist aus Glas, ebenso die Fassade des Kaufhauses. Wer langsam aufsteigt, hat einen guten Blick auf den Platz vor dem Rathaus.

"Ich war im fünften Stock und habe hinuntergeschaut. Es ist alles voll", sagt Wolfgang und lächelt. Gemeinsam mit seiner Frau Sabine ist er aus einer kleinen Gemeinde im Umland in die sächsische Stadt (247.000 Einwohner) gekommen, schon zum zweiten Mal binnen weniger Tage.

Neuer Mut

Und wen hat er da getroffen? "Einen Arbeitskollegen, mit dem ich noch nie über Politik gesprochen habe. Wir haben uns herzlich zugenickt und kurz gegrinst. Das hat mir Mut gemacht, dass wir doch nicht so wenige sind", sagt der Mittvierziger.

Ähnlich fühlen in Deutschland derzeit viele Tausend Menschen. Seit die Deportationsfantasien von Rechtsextremen bekannt geworden sind, stehen immer mehr Menschen auf, um ein Zeichen des Protests gegen die AfD, die Alternative für Deutschland, zu setzen.

Im ganzen Land finden Demonstrationen statt, auch an diesem Wochenende werden wieder viele Menschen auf die Straße gehen. "Ich war noch nie für die AfD, aber jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem man das auch klar zeigen muss", sagt Sabine.

Mehr Zulauf als erwartet

Der Zulauf zu den Demonstrationen hat an vielen Orten auch die Organisatorinnen und Organisatoren überrascht. In Chemnitz etwa rechneten sie am vergangenen Sonntag mit 200 Leuten. Gekommen sind 12.000.

Am Mittwochabend, bei der zweiten Demo, wurden 2000 gezählt. "Vor der ersten Protestveranstaltung hatte ich echt Sorge – nämlich davor, dass niemand mitmacht", meint Wolfgang und erinnert an das Jahr 2018.

Damals war beim Stadtfest ein Deutscher ermordet worden, danach wurden zwei Asylwerber (aus dem Irak und Afghanistan) festgenommen. Die Folge: äußerst gut besuchte Aufmärsche von Rechtsextremen. "Es ist eine Schande, dass das von Chemnitz deutschlandweit in Erinnerung geblieben ist", sagt Wolfgang, "aber jetzt hat die Zivilgesellschaft gezeigt, dass sie sich gegen Nazis auf die Beine stellen kann."

Entstehung einer Bewegung

Wie in Chemnitz sind auch in anderen deutschen Städten auf den Demos viele verschiedene Menschen zu sehen: Junge, Alte, Familien, Mitglieder der Gewerkschaften und der Kirchen. In Chemnitz schiebt eine Frau einen Kinderwagen, auf dem ein kleines Plakat hängt. "Wenn ich groß bin, werde ich KEIN Nazi", steht darauf.

"Es ist keine ganz neue Bewegung, die da gerade entsteht", sagt der Soziologe Philipp Knopp, der sich mit rechtsextremen Protesten beschäftigt, an der Bertha-von-Suttner-Privatuniversität in St. Pölten forscht und Mitglied des Berliner Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) ist.

Seit Jahren gebe es in Deutschland eine aktive Zivilgesellschaft, die sich gegen Rechtsextremismus engagiere. Aber ihr sei, sagt Knopp, ein wenig "die Luft ausgegangen". Das liege zum einen an der erzwungenen Demonstrationspause durch Corona, die auch andere Bewegungen getroffen habe. Zudem habe der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der AfD eine gewisse Starre ausgelöst. Diese jedoch war dann doch vielerorts schlagartig zu Ende, als das Geheimtreffen von Rechtsextremen und AfD-Vertretern und -vertreterinnen bekannt wurde.

"Das hat sozusagen das Fass zum Überlaufen gebracht, viele Menschen erkennen jetzt, dass es um nichts Geringeres geht als um die Erhaltung der Demokratie und der offenen Gesellschaft", sagt Knopp.

Sadaf, eine junge Afghanin, steht vor dem Rathaus, etwas abseits. Seit fünf Jahren lebt sie in Deutschland. An der Demo hat sie eines gleichermaßen überrascht und gefreut: "Ich dachte, da kommen nur Ausländer. Aber nein! Es sind ganz viele Deutsche da." Für sie ist das ein Zeichen der Menschlichkeit.

Sie sagt auch: "In Afghanistan hatte ich keine Rechte, hier in Deutschland schon. Das soll so bleiben." Und dass sie keine Angst habe, solange auch Deutsche gegen Rechtsextreme auf die Straße gingen.

Aktionen auch in kleinen Städten

Die Demonstrationswelle macht auch vor kleineren Städten nicht halt. In Sachsen gab es in den AfD-Hochburgen Plauen oder Pirna Protest. "Das ist neu, so etwas habe ich noch nie erlebt", sagt Jaspar Reimann. Der 21-Jährige engagiert sich für Fridays for Future und hat in den vergangenen Tagen 13 Demonstrationen in Sachsen koordiniert.

Dass es den Menschen, die dort auf die Straße gehen, möglicherweise nicht so leichtfällt wie jenen in Hamburg, Berlin und München, zeigt ein Vorfall in Pirna, über den die Bild-Zeitung und das Zentrum interkultureller Verständigung berichteten.

In der Kleinstadt mit ihren 39.000 Einwohnern, die rund 25 Kilometer von der Landeshauptstadt Dresden entfernt ist, marschierte eine kleine Gruppe mutmaßlich Rechtsextremer auf. Ein junger Mann trug eine braune Uniform, die an die NS-Zeit erinnerte.

Für Reimann ergibt sich daraus ein klarer Handlungsauftrag: "Wir müssen aus den größeren Städten wie Dresden oder Leipzig auch in die kleineren Städte und aufs Land fahren, um die Leute zu unterstützen."

Derzeit sei man schon dabei, sich zu vernetzen. "Es wird kein leichter Kampf", meint Reimann, aber: "Wir führen ihn, weil es nicht egal ist, wie die Landtagswahl ausgeht." Sachsen wählt am 1. September, die AfD liegt in Umfragen auf Platz eins bei 35 Prozent.

Mobilisierung für den Wahltag

Die große Hoffnung ist, dass sich der Widerstand nun auf das Wahlergebnis auswirkt. Dafür müsse der Protest zunächst anhalten und sich verfestigen, erklärt Protestforscher Knopp. Dann sei es möglich, dass die Demonstrationen etwas bewirken.

Denn: "Es gibt Studien, die zeigen, dass Proteste Einfluss auf Wahlergebnisse haben, weil sie die Aufmerksamkeit von Wählerinnen und Wählern auf bestimmte Themen lenken. Damit trägt Protest dazu bei, dass für die Parteien gestimmt wird, die sich dieser Themen annehmen."

In Chemnitz verläuft die Kundgebung ohne Störungen. Es ist recht ruhig vor dem Rathaus. Die Menschen stehen dicht beieinander. Für die Rednerinnen und Redner allerdings gibt es immer wieder Applaus.

Wahlrecht nutzen

Renate Aris ist gekommen und steigt langsam auf die Bühne. Die 89-jährige Chemnitzerin ist eine der letzten Jüdinnen Sachsens, die den Holocaust überlebt haben.

"Für das reine deutsche Blut mussten sechs Millionen Juden sterben, auch über 20 Personen meiner Familie", sagt sie und mahnt: "Nie wieder kann man sagen, ich habe davon nichts gewusst. Nutzen Sie Ihr Wahlrecht und schauen Sie genau hin." (Birgit Baumann aus Chemnitz, 26.1.2024)