Gegen die Griechin Eva Kaili wird wegen mutmaßlichen Schmiergeldzahlungen ermittelt.
Immer wieder kompromittieren große und kleine Verfehlungen die Arbeit des EU-Parlaments.
AP/Jean-Francois Badias

Es waren tausende Fünfzig-Euro-Noten, die Ermittler in einer Reisetasche unter Windeln der 21 Monate alten Tochter der ehemaligen Vizepräsidentin des EU-Parlaments Eva Kaili in einem Brüsseler Hotel fanden. Insgesamt 720.000 Euro in bar – dieser spektakuläre Fund vom 9. Dezember 2022 steht für den Beginn des sogenannten Qatargates, bei dem Ermittler ein ungeahntes Maß an Korruption im Herzen der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament ans Licht brachten: Noch laufen die Ermittlungen rund um mutmaßliche Schmiergeldzahlungen (von rund 1,5 Millionen Euro) aus Katar, Marokko und Mauretanien unter anderem gegen Kaili und zwei weitere EU-Abgeordnete.

Doch der Imageschaden für die EU ist längst passiert. Trotz verschärfter Transparenzregeln hat der Skandal Zweifel an der Integrität des EU-Parlaments hinterlassen: Wie konnte das passieren? Handelt es sich um einen Einzelfall? Gehen Behörden ausreichend dagegen vor?

Die niederländische Rechercheplattform Follow the Money (FTM) ist dem nachgegangen und hat zusammen mit Journalistinnen und Journalisten aus 22 EU-Staaten die Mitglieder des aktuellen EU-Parlaments, das im Juni neu gewählt wird, für seinen Integritätsindex durchleuchtet. Das Ergebnis: Ein Viertel beziehungsweise 163 von insgesamt 705 Parlamentariern haben im Laufe ihrer Karriere, ob in Brüssel oder dem Heimatland, wegen Regelverstößen oder unangemessenen Verhaltens für Schlagzeilen gesorgt.

Hinter Gittern

Davon wurden mindestens 23 Abgeordnete verurteilt, einer sitzt wegen Anführung einer kriminellen Vereinigung aktuell für 14 Jahre hinter Gittern. Der griechische Rechtsextreme Ioannis Lagos und vormalige Chef der als verbrecherisch eingestuften Partei Goldene Morgenröte nimmt virtuell von seiner Zelle aus an Abstimmungen des EU-Parlaments teil.

Im Großen und Ganzen reichen die 253 mutmaßlichen Skandale von der Angabe eines nicht existenten Professorentitels auf dem Wahlzettel, wie im Falle eines AfD-Politikers bei der vergangenen EU-Wahl, und Verstößen gegen Covid-Regeln bis hin zu schwerwiegenden Korruptionsvorwürfen – etwa gegen die italienische EU-Politikerin Lara Comi von der Forza-Italia-Partei. Ihr wird vorgeworfen, sich an öffentlichen Geldern – in Summe 500.000 Euro – bereichert zu haben. Comi wurde in Italien zu mehr als vier Jahren verurteilt. Sie hat dagegen berufen und ist immer noch im Amt.

Von den 45 gezählten Korruptionsvorwürfen betreffen 29 Freunderlwirtschaft: In Bulgarien bekam etwa die PR-Firma des Sozialisten und Ex-Premiers Sergei Stanishev 2014 den Zuschlag, die damalige EU-Wahl zu bewerben – bei der er selbst kandidierte.

Teure Scheinangestellte

Doch es sind keineswegs nur Abgeordnete aus dem Süden oder Osten Europas auffällig: EU-Politiker des weit rechts stehenden Rassemblement National aus Frankreich gerieten wegen Einladungen zu Luxusreisen, die sie im Gegenzug für unkritische Wahlbeobachtungsmissionen auf der von Russland annektierten Krim und in Kasachstan bekommen haben sollen, in die Kritik. Einigen wird zudem vorgeworfen, Scheinangestellte beschäftigt zu haben und mit dem dafür erhaltenen Geld nationale Gehälter bezahlt zu haben. Angebliche Kosten für das EU-Parlament: knapp sieben Millionen Euro. Die Affäre wird in Frankreich vor Gericht verhandelt.

Zahlen des EU-Parlaments zeigen, dass 108 nicht genannte Mandatare zwischen 2019 und 2022 insgesamt mehr als zwei Millionen Euro wegen Missbrauchs von Assistentenentgelten zurückzahlen mussten. Besonders anfällig für Fehlverhalten ist laut der NGO Transparency International die Ausgabenpauschale von rund 5000 Euro monatlich, die den Mandataren neben dem Nettogehalt von rund 8000 Euro zur Verfügung steht und deren Einsatz kaum überprüft wird. Bis auf eine Rückforderung der Gelder drohen bei einer Zweckentfremdung kaum Strafen. Ein Beispiel hierfür sind überzogene Kilometerangaben eines polnischen PiS-Rechtspolitikers. Im Rahmen der Recherche wurden 44 Betrugsvorwürfe gezählt. Österreich ist im Index mit FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky vertreten, der bei den Ermittlungen rund um die FPÖ-Spesenaffäre als Beschuldigter geführt wird. Das EU-Parlament hat seine Immunität aufgehoben, Vilimsky weist alles zurück. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Mobbing und Belästigung

Auffallend hoch ist auch die Zahl der Vorwürfe – 46 an der Zahl – wegen Mobbings und Belästigung. Erst im Vorjahr hat das EU-Parlament zwei Mitte-links-Politikerinnen aus Luxemburg und Spanien wegen psychischer Belästigung sanktioniert.

Für die Politologin Katjana Gattermann von der Universität Amsterdam haben all diese Skandale vor allem einen Effekt: Sie überschatten die harte Arbeit des Parlaments. "Das macht es für die meist fleißigen Abgeordneten des schwierig, tatsächlich für ihre Arbeit wahrgenommen zu werden", so Gattermann. Sie seien im Vergleich zu Politikern im Heimatland nicht so sichtbar. "Das macht es für die Wähler schwierig, zu wissen, was ihre Abgeordneten tatsächlich tun."

Ein Sprecher beteuert auf Nachfrage, dass das EU-Parlament eine Nulltoleranz für Korruption anstrebe und verweist auf eine Reihe von Reformen seit dem Qatargate – insbesondere auf die proaktivere Rolle des Verhaltenskodex-Komitees, das die Einhaltung von Regeln überwacht. (Bart de Koning, Flora Mory, 31.1.2024)