Sarah Wiener sitzt auf einer Bank vor einer Ziegelmauer
Einfach vegan leben sei keine Lösung, sagt Sarah Wiener. Greift man sich nur einen Teil des Problems raus, ist das auch nur ein Teil der Wahrheit. Nachhaltigkeit bedeutet für sie auch mehr Sortenvielfalt, frischere Produkte und vor allem Verzicht auf verarbeitete und manipulierte Lebensmittel.
Lutz Jäkel

Essen ist eine sehr emotionale Angelegenheit. Es steht für Genuss, Gemeinschaft, aber auch für Individualität, Abgrenzung oder Sünde. Und weil alle essen müssen, haben auch wirklich alle eine Meinung dazu. Das sorgt für enorm viel Diskussions- und Streitpotenzial.

Die Köchin Sarah Wiener setzt sich schon ihr ganzes Berufsleben für genussvolles, hochwertiges und vielfältiges Essen ein. Sie versteht, warum man vegan leben will, für sie ist das aber ein zu kleiner Versuch der Lösung. Im STANDARD-Interview spricht sie über Essen als neues Statussymbol, warum hochverarbeitete Ersatzprodukte keine Lösung sind und wie eine gesunde Beziehung zum Tier aussehen könnte.

STANDARD: Essen sei die neue Religion, hört man immer wieder. Wie sehen Sie das?

Wiener: Religion ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen, aber Ersatzreligion trifft es ganz sicher. Zumindest in Ländern, in denen man keinen Hunger leiden muss, können verschiedene Ernährungsgewohnheiten und Glaubenssätze eine oft schon übermächtige Rolle spielen. Man definiert sich über das eigene Essen und grenzt sich damit von anderen ab. Die Voraussetzung dafür, dass man diesen Vorlieben und Unterschieden überhaupt so eine Macht geben kann, ist aber ein Leben im Überfluss. Menschen und Gesellschaften, die sich das nicht leisten können, führen diese Diskussion nämlich nicht. In unseren Breitengraden stehen uns so viele Nahrungskalorien zur Verfügung wie nie zuvor, und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Gleichzeitig wissen wir immer weniger über den Ursprung unserer Lebensmittel, über die Entstehungskette vom Samenkorn, bis es auf unserem Teller landet. Da gibt es eine ziemliche Entfremdung und für viele auch eine Verunsicherung.

STANDARD: Trotzdem ist Essen sehr emotional. Warum?

Wiener: Weil es etwas sehr Urtümliches ist. Es hängt eng mit der eigenen Identität, Kultur und mit der Herkunft zusammen. Es steht für Genuss, Belohnung, Befriedigung, aber auch Bestrafung und Geißelung. Wie oft hört man jemanden sagen, dass er oder sie gesündigt hat – weil man genascht hat. Essen muss also für sehr vieles herhalten. Weil aber jeder Mensch isst, hat auch jeder und jede eine Meinung dazu. Diese enorme Bedeutung des Essens in den reichsten Ländern der Welt ist in gewisser Weise ein Abbild unserer Dekadenz und der Tatsache, dass sich viele in unserer Gesellschaft jegliches Essen leisten können.

STANDARD: Also Essen als das neue Statussymbol?

Wiener: Absolut. Mit der Entscheidung, etwas zu essen oder eben auch nicht, grenzt man sich auch ab. Heute passiert das nicht nur mehr über eine spezielle Modemarke oder ein bestimmtes Auto, die Statussymbole, die früher klargemacht haben, zu welcher Gruppe man gehört, sind vernebelt und aufgelöst. Aber mit Essen können Sie völlig klarmachen, wo Sie stehen und mit wem Sie nicht die gleiche Suppe löffeln wollen. Dabei geht es nicht nur um Wissenshoheit oder die eigenen, vermeintlich besseren Werte, es geht auch um eine Meinungshoheit, vermischt mit ethischen und moralischen Anforderungen an sich selbst und andere. Dabei ist das das genaue Gegenteil von dem, was Essen leisten kann. Das ist ja etwas Existenzielles, Köstliches, man verwandelt rohe Grundnahrungsmittel in Speisen und teilt diese dann mit anderen. Das ist eine der größten kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit.

STANDARD: Aber die Argumente, warum man etwas isst und etwas anderes nicht, sind ja oft auch nachvollziehbar.

Wiener: Natürlich. Trotzdem gibt es noch eine größere Wahrheit als nur, ob man zum Beispiel tierische Proteine isst oder nicht. Das Problem fängt schon viel früher an als bei unserem Fleischkonsum, der völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Viele Bereiche in der Ernährung sind problembehaftet, wie etwa die hohe Verarbeitung von Essen durch die Nahrungsmittelindustrie. Wir denken ja, wir haben die Wahl, was wir essen und was nicht. Im Supermarkt scheint es eine enorme Vielfalt an Produkten zu geben. Aber was überhaupt in den Supermarkt hineinkommt, das bestimmen einige wenige, übernational agierende Großkonzerne und deren Schwesternfirmen. Wenn ich mir nun einen Bereich in dieser Kette herausgreife und etwa auf tierische Produkte verzichte, dann ist das nur auch nur ein Teil der Wahrheit. Die Lösung für das Problem, dass Tiere leiden, kann nicht sein, dass wir die Tiere abschaffen. Die Lösung muss sein, dass wir das Leid abschaffen. Das sind ja unsere Mitgeschöpfe, für die wir Verantwortung tragen. Da schließt sich eine philosophisch-ethische Diskussion an, die so noch gar nicht geführt wurde. Dürfen wir als Menschen und Allesfresser überhaupt anderes Leben essen? Oder sind wir womöglich sogar verdammt dazu, Leben zu vernichten, um selber zu überleben?

STANDARD: Wäre nicht genau dann Veganismus die Lösung?

Wiener: Wofür? Streng genommen sind ja auch Pflanzen unsere Mitgeschöpfe. Wenn man auf jegliches tierische Protein verzichtet und stattdessen vegane hochverarbeitete patentierte Ersatzprodukte wie Analogkäse, Getreideisolate, die so tun, als wären sie was anderes, oder In-vitro-Fleisch isst, greift man im Grunde zu minderwertigen Produkten, die mit enormen Ressourcen und jeder Menge Manipulation hergestellt worden sind. Ich bezweifle, dass das noch viel mit Genuss und Auswahlmöglichkeiten zu tun hat. Diese hochindustrialisierten Prozesse schränken die Essensvielfalt noch weiter ein, als sie es ohnehin schon ist, und ändern in Wirklichkeit nichts für die Tiere, die unter grauenerregenden Bedingungen gehalten werden. Im Gegenteil, durch Essen aus dem Bioreaktor und dem 3D-Drucker entfernen wir uns immer weiter von der Natur und natürlichen Prozessen.

STANDARD: Aber wie kann man das auflösen?

Wiener: Dafür muss es einen politischen Rahmen geben, der das Einfache und das Richtige begünstigt und fördert. Bodengebundene Tierhaltung wäre ein wichtiger Schritt gegen Massentierhaltung. Auf einer bestimmten Fläche darf man dann nur so viele Tiere halten, wie die Fläche erträgt und ernähren kann. Tiere könnten ihre wesensmäßigen Bedürfnisse ausleben. Dazu gehört auch, dass man sie entsprechend füttert. Die Kuh ist gemacht, um Gras und Grasprodukte zu fressen, nicht Soja, Mais und Getreide in rauen Mengen. Man müsste außerdem die wahren Kosten der Lebensmittelherstellung einpreisen. Dann wären Biolebensmittel günstiger und umweltschädliche Nahrungsmittelherstellung am oberen Ende der Preisskala. Der Fleischkonsum würde schrumpfen. Wir wären gesünder und würden abwechslungsreicher essen. Man würde auch wieder das komplette Tier essen, inklusive der Innereien, und nicht mehr so viele Lebensmittel wegwerfen.

STANDARD: Aber dann können sich viele Menschen Fleisch einfach nicht mehr leisten oder nur noch ganz selten.

Wiener: Ich denke, die meisten Menschen setzen andere Prioritäten in ihrem Leben, als gute gesunde Lebensmittel zu essen. Es gibt einen Teil, der sich wenig Fleisch leisten kann, schon gar keines aus ökologischer Haltung. Aber man kann ja nicht die soziale Frage mit der ökologischen aufwiegen und austauschen. Wir müssen Lösungen für beides finden. Wenn ein großer Teil der Gesellschaft es sich nicht leisten kann, gesund und nachhaltig zu essen, dann haben wir ein systemisches Problem, das wir nicht mit Symptombekämpfung lösen werden. Es ist ein etabliertes Credo, dass Lebensmittel billig sein müssen. Dafür bezahlen wir dann halt ein paar Millionen Bauern schlecht, die deshalb von ihrer Arbeit und ihren Produkten nicht mehr gut leben können. Dazu kommen der globalisierte Agrarmarkt, monopolisierte Handelsstrukturen, zerstörte kleinbäuerliche Strukturen, Klimawandel, Landflucht, Handwerkssterben und vieles mehr. All diese Probleme löst man nicht, indem man einfach auf Fleisch verzichtet, und dann ist alles gut. Da zeigt sich ganz klar, dass Ernährung kompliziert geworden ist. Unser übermäßiger, anonymisierter Fleischkonsum zeigt jedoch sehr gut auf, dass sehr vieles schiefläuft.

STANDARD: Es emotionalisiert, und diese Emotionen werden auch politisch ausgeschlachtet. Man schürt die Angst, dass einem das Schnitzel verboten wird.

Wiener: Das ist natürlich billiges politisches Kleingeld und wirklich absurd. Niemand schreibt jemandem vor, was er oder sie zu essen hat, es geht hier ja nicht um Verbote. Aber für aufgeklärte, soziale und demokratische Bürgerinnen und Bürger gehört es dazu anzuerkennen, dass es Gebote der Vernunft gibt, dass wir Verantwortung für künftige Generationen tragen und auch für unsere Mitgeschöpfe. Immerhin sind die abhängig von uns. Es geht aber auch um unser eigenes Glück, um unsere Gesundheit. Wenn wir darüber als Gesellschaft keinen Konsens finden können, dann haben wir viel größere Probleme. Ich finde es unverantwortlich, mit billigen Plattitüden Öl ins Feuer zu gießen, anstatt ernsthafte, menschenfreundliche und echte Lösungen zu diskutieren. Es gibt gute und legitime Gründe für unterschiedliche Ernährungstrends, egal ob das Paläo, Rohkost, Makrobiotik, vegan oder etwas anderes ist. Mit diesen Gründen sollte man sich auseinandersetzen, anstatt sie zu verspotten und abzuwehren. Und dann sollten wir alle versuchen, eine gangbare Mitte zu finden, um Grausamkeiten, die es in Bezug auf die Ernährung gibt, wieder zu korrigieren.

STANDARD: Wie könnte denn so eine gangbare Mitte aussehen?

Wiener: Mehr zum Ursprung des Essens zurückkehren, den Bezug zur Natur wieder herstellen. Gutes Essen fängt ja schon in der Kindheit an. Viele haben das nie kennengelernt und wissen darum auch nicht, wie man es zubereitet. Da gilt es, gesamtgesellschaftlich anzusetzen. In öffentlichen Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern müsste man viel mehr Speisen aus frischen Produkten anbieten, hauptsächlich auf pflanzlicher Basis. Dazu braucht man natürlich Kreativität, Gemüse essen bedeutet nicht nur, ein paar Pilze ins Geschnetzelte zu geben. Den Geschmack und die Fantasie in Sachen Kochen muss man schon den Kindern beibringen. Dann brauchen wir eine größere Vielfalt an Grundnahrungsmitteln, unterschiedlichen Sorten und Varianten. Da ist einfach wahnsinnig viel verlorengegangen. Essen Sie einmal wilden Brokkoli, wenn Sie ihn bekommen, leicht in Butter angeschmurgelt. Da rinnt einem das Wasser im Mund zusammen, man spürt, wie lebendig die Geschmacksnerven sind. Bei den aufgeblähten Brokkoliröschen, die man im normalen Supermarkt bekommt, braucht man dagegen schon sehr viel Olivenöl und Gewürze, um da ein gutes Essen draus zu machen. Das ist bei vielen anderen Lebensmitteln auch so. Eine sonnengereifte Freilandtomate mit einer Spur Salz kann ein sehr befriedigendes ganzes Mahl darstellen. Das schaffen Sie mit der Supermarktware auf keinen Fall. Fleisch höher zu besteuern und mit diesem Geld Bäuerinnen und Bauern beim Umbau der Ställe für mehr Tierwohl zu unterstützen wäre für mich ebenso eine sinnvolle Maßnahme, wie die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel, frisches Obst und Gemüse zu senken. Man könnte hochverarbeitete Lebensmittel höher besteuern, zum Ausgleich für den gesundheitlichen und ökologischen Schaden, den diese Produkte erzeugen, und die Werbung für Zucker- und Transfettprodukte beschränken. Das wären alles wichtige Lenkungsmaßnahmen. Noch besser ist es aber, die Vielfalt und das Kochen zu fördern, essbare Gärten für jedermann anzulegen und unsere Körpersouveränität zu verteidigen.

STANDARD: Also weg vom Fleisch, hin zum Gemüse?

Wiener: Es geht nicht darum, einen Kulturkampf zu führen, ob man Fleisch nun isst oder nicht. Jeder wie er mag. Ich erkenne und ehre die Motivation, die oft dahintersteht. Ich persönlich suche eine Balance zwischen Kulturtieren, Natur und meinen Bedürfnissen. Tiere sind unerlässlich im ökologischen Kreislauf. Ich kann mir aber durchaus eine gesündere Beziehung vorstellen, als es jetzt Usus ist. Wir sollten auf jeden Fall einen Kampf für mehr Vielfalt bei allen Lebensmitteln führen und die Fülle verteidigen, für ein breiteres Angebot, das nachhaltig produziert und frisch und vielfältig angeboten wird. Die Gesellschaft braucht keine weitere Zersplitterung. Wir brauchen ein Zusammenrücken und mehr Verständnis füreinander. Alle zusammen am großen Tisch, gemeinsam eine köstliche Suppe löffelnd, die wir uns mit Klugheit und Bedacht eingebrockt haben. Das wäre meine Vision. (Pia Kruckenhauser, 4.2.2024)