KI-Generierter Avatar
KI-generierte Klone finden zunehmend Verwendung im Netz.
Midjourney/stm

Chen Yiru ist so etwas wie der Jamie Oliver Ostasiens. Auf dem Kurznachrichtendienst Weibo, wo ihm neun Millionen Fans folgen, demonstriert der taiwanesische Food-Influencer seine Kochkünste und testet verschiedene Gerichte. In kreischend bunten, schrillen Videos präsentiert er wie die Marktschreier auf dem Fischmarkt verschiedenste Waren. Seine Spezialität: Melonen.

Vor ein paar Wochen stellte er einen Livestream ins Netz, wie er 15 Stunden am Stück Hühnerflügel und Nudeln verzehrte. "Ich schaute den Livestream am Morgen, und er aß Chicken Wings", kommentierte eine Zuschauerin. "Ich schaltete am Abend wieder ein, und er aß noch immer Chicken Wings." Doch je länger die Nutzer auf die monoton malmenden Kieferknochen starrten, desto misstrauischer wurden sie: Kann jemand 15 Stunden am Stück so viel Geflügel in sich hineinfuttern?

Des Rätsels Lösung fand sich in einem diskreten Hinweis auf dem Kanal. Dort hieß es: "Nur zu Anzeigezwecken, keine reale Person." Der Foodblogger hatte mithilfe von künstlicher Intelligenz ein digitales Double von sich erstellt, das ihn in der Livesendung vertrat. Bei genauem Hinsehen erkennt man den Avatar an Unschärfen: Die Mimik wirkt steif, der rechte Arm hängt leblos wie bei einer Gummipuppe herunter. Einige Fans reagierten empört und warfen ihrem Idol mangelnde Authentizität vor – der Food-Influencer verlor binnen dreier Tage 7.000 Follower, was aber gemessen an der Gesamtzahl ein verkraftbarer Verlust ist.

Chen Yirus Avatar isst im Livestream Chicken Wings.
Chen Yirus Avatar isst im Livestream Chicken Wings
Youtube

Teleshopping mit geklonten Stars

Chen Yiru ist nicht der einzige Influencer, der seine Arbeit an eine KI auslagert. Zahlreiche Influencer in China und Taiwan haben digitale Klone von sich erstellt, um auf Plattformen wie Taobao, Douyin und Kuaishou noch mehr Inhalte senden zu können. Man muss sich das Ganze wie eine Mischung aus Teleshopping und Live-Gewinnspiel vorstellen: Marken zahlen bekannten Streamern tausende Dollar, damit sie Produkte in die Kamera halten und vor einem Livepublikum vermarkten – von Kleidung über Kosmetika bis hin zu Instant Food.

Die Zuschauer können in dem interaktiven Format einzelne Produkte ordern und Fragen stellen. Superstars wie Li Jiaqi, der "Lippenstiftkönig" Chinas, ziehen ein Millionenpublikum an. Als Reality-TV-Star Kim Kardashian mit der chinesischen Streamerin Viya 2019 auf Sendung ging, um ihr neues Parfüm in China zu promoten, wurden innerhalb von wenigen Minuten 15.000 Flacons verkauft. Livestream-Shopping ist der neue Trend im Online-Handel. Es gibt in China mittlerweile sogar eigene Akademien, wo Nachwuchstalente in Lehrgängen zu Livestream-Verkäufern ausgebildet werden. Doch selbst bekannte Streamer können sich nicht zweiteilen und müssen irgendwann auch einmal schlafen. Also lassen sie sich doubeln und können so noch mehr Deals an Land ziehen. Computer werden nicht müde, altern nicht und können essen, so viel sie wollen. Ist die KI die bessere Verkäuferin?

Avatare per Knopfdruck erstellt

Chinas E-Commerce-Plattformen sind voll von Avataren, die für Suppenfleisch oder Unterwäsche werben. Start-ups wie das in der Millionenmetropole Nianjing ansässige Silicon Intelligence bieten für umgerechnet 1.000 Dollar maßgeschneiderte Klone an. Vor einigen Jahren, als Avatare hauptsächlich für Computersimulationen und Kinofilme erstellt wurden, musste man Menschen in Studios mit dutzenden Kameras scannen. Das war sehr aufwendig und teuer. Heute reicht ein kurzer Videoclip von einer Minute. Hochleistungsfähige KI-Systeme extrahieren aus dem Ausgangsmaterial biometrische Daten und basteln daraus ein 3D-Modell. Einmal generiert, kann der digitale Zwilling per Knopfdruck eingesetzt werden. Beliebig oft, wie eine Marionette. Sei es als Anchorman in einer Nachrichtensendung oder als Streamer in einem digitalen Shopping-Kanal. Das Skript schreibt eine KI.

Der Verkäufer aus Fleisch und Blut muss nichts weiter tun, als Name und Preis des Produkts einzugeben und das computergenerierte Skript gegenzulesen, das von einem Sprachcomputer eingesprochen wird. Sind die Lippenbewegungen synchronisiert, kann der Roboter auf Sendung gehen. Besonders ausgefeilte Versionen sind sogar in der Lage, situativ ihre Verkaufsstrategie zu ändern und auf Reaktionen des Publikums einzugehen.

Promis lassen sich in China "klonen"

Auch Werbeikonen aus dem Westen haben sich im Reich der Mitte klonen lassen. So wurde eine KI-generierte Gesichtsmaske von Kylian Mbappé in einem Werbeclip des chinesischen Lebensmittelkonzerns Mengniu auf den Körper eines Doubles montiert – ohne dass der französische Fußballstar tausende Kilometer zu dem Drehort hätte reisen musste. Im digitalen Raum lassen sich Datenkörper per Mausklick verschieben und neu zusammenschrauben.

Die amerikanische Youtuberin Caryn Marjorie hat sogar eine KI-Version von sich kreiert, die Fans für einen Dollar pro Minute "daten" und mit der sie erotische Dialoge führen können. Telefonsex war gestern, KI-Romanzen sind heute. Während im Westen die Vorbehalte gegen Deepfakes und Stimmklone noch weit verbreitet sind, ist die Kultur in China eine andere: Dort ist es völlig normal, dass man mit fiktiven Charakteren im Alltag kommuniziert und Beziehungen führt. Ein Tochterunternehmen des chinesischen Spielentwicklers Netdragon hat sogar einen KI-Roboter als CEO bestellt. Vielleicht kauft man in diesem Konsumklima einem Avatar auch eher einen Lippenstift oder Geflügelprodukte ab. (Adrian Lobe, 16.2.2024)