Die Europäischen Flaggen vor dem Hauptgebäude der Europäischen Kommission in Brüssel.
Auf Vorschlag der EU-Kommission wurde jahrelang über zeitgemäße Schuldenregeln diskutiert. Nun fehlt nur noch eine kleine Hürde.
REUTERS/YVES HERMAN

Nach Jahren der Diskussion ist nun eine weitere Hürde genommen: Verhandler von Europaparlament und EU-Staaten haben sich Ende vergangener Woche auf neue Schuldenregeln verständigt. Diese sehen konkrete Zielvorgaben bei der Entschuldung vor, räumen den Mitgliedsstaaten aber auch mehr Spielraum ein. Eine Anpassung an die "neuen Realitäten", resümierte Kommissionsvize Valdis Dombrovskis.

Zur Erinnerung: Bis Jahresbeginn waren die EU-Schuldenregeln ob der multiplen Krisen ausgesetzt. Schlagzeilen machten zuletzt auch zwei der drei größten EU-Volkswirtschaften. Italiens Staatsverschuldung könnte laut einem OECD-Bericht bis 2040 auf 180 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen; und auch in Frankreich kletterte die Verschuldung zuletzt in lichte Höhen.

Prominente Sorgenkinder

Umso interessanter sind die nunmehrigen Lockerungen, auf die sich die EU-Unterhändler einigen konnten. Im Fokus stehen Schuldenstand und Haushaltsdefizit der EU-Staaten. Seit dem Maastricht-Vertrag von 1992 gilt für Letzteres eine Obergrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), für Ersteren eine Grenze von 60 Prozent.

Werfen wir zunächst einen Blick auf den Schuldenstand, also die Staatsschulden im Verhältnis zum BIP. Laut den aktuellsten Zahlen der EU-Statistikbehörde Eurostat (siehe Grafik) liegen 13 der 27 EU-Staaten über der festgelegten Grenze – mitunter erheblich. Österreich rangiert mit 78,2 Prozent nahe am EU-weiten Schnitt von 82,6 Prozent.

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Die Sorgenkinder Brüssels sind indes Italien, Frankreich und Spanien. Für sie und andere Staaten mit Schulden jenseits der 90 Prozent gilt eine jährliche Entschuldung von einem Prozent als Ziel. Für Länder wie Österreich, deren Schuldenstand zwischen 60 und 90 Prozent liegt, lautet das Ziel hingegen 0,5 Prozent im Schnitt pro Jahr.

Beide Pfade stellen im Vergleich zu den bisher gültigen Regeln eine deutliche Lockerung dar, schließlich müssen Staaten mit einer Verschuldung über 60 Prozent den Teil oberhalb der Grenze jährlich um ein Zwanzigstel abbauen. Die Auswirkungen können damit erheblich sein. Für die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU, das hochverschuldete Frankreich, etwa würde der derzeitige Pfad gemäß den Zahlen für 2022 eine jährliche Entschuldung von rund 68 Milliarden Euro erfordern, mit dem künftigen sind es nur noch etwa 29 Milliarden.

Puffer für Krisenzeiten

Etwas strenger fällt die Regelung für das Haushaltsdefizit aus, das die Differenz von Einnahmen und Ausgaben des öffentlichen Haushalts, ebenfalls in Relation zum BIP, darstellt. Liegt das Defizit oberhalb der Drei-Prozent-Grenze, soll in Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs eine Quote von 1,5 Prozent und damit eine Art Puffer für Krisenzeiten aufgebaut werden. Als zu stark verschuldet gelten den vorläufigen Eurostat-Zahlen nach acht Mitgliedsstaaten. Österreich zählt seit kurzem nicht mehr dazu, verzeichnete es im dritten Quartal 2023 doch ein Defizit von 2,7 Prozent des BIP, nachdem es im Vorjahresquartal noch bei 3,5 Prozent gelegen war.

Mehr als Richtwerte dürften die Obergrenzen aber auch künftig nicht darstellen. Denn den Staatsschuldenstand innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens – üblicherweise vier Jahre – auf unter 60 Prozent der Wirtschaftsleistung zu drücken ist nicht als gänzlich verpflichtend vorgesehen. Vielmehr sollen die Schulden auf einen "plausiblen Abwärtspfad" gebracht werden, zudem wird den aktuellen Plänen nach unter Voraussetzung konkreter Investitions- und Reformzusagen eine Verlängerung um weitere drei Jahre möglich sein.

"Die Idee dahinter ist, dass stark verschuldete Länder gezielter entschulden können", erklärt Helmut Hofer vom Institut für Höhere Studien (IHS). Welche Aufwendungen als Begründung für die Siebenjahresregel gelten könnten, ist indes nicht gänzlich klar. Bernhard Grossmann, Büroleiter des Fiskalrats, hält es für möglich, dass etwa die seit 2021 laufenden und von der EU geförderten Aufbau- und Resilienzpläne die Kriterien erfüllen könnten. Diese enthalten etwa Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung und laufen noch bis 2026. Insofern könnten die Mitgliedsstaaten bereits mit einem guten Argument in die neue Ära der Fiskalregeln starten.

Frage der gelebten Realität

Diese erscheinen insgesamt als Kompromiss aus Befürwortern eines "realistischen Schuldenabbaus" rund um hochverschuldete Länder wie Frankreich und Italien sowie den Forderungen allen voran Deutschlands, die Vorgaben nicht zu sehr aufzuweichen. So sprach sich der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) dezidiert für einen "Puffer für mögliche Krisen" aus. Eine Position, die auch Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) bis zuletzt vertreten hat.

Nach der informellen Einigung müssen EU-Staaten und Parlamentsplenum noch offiziell zustimmen – üblicherweise reine Formsache. Die ersten nationalen Pläne sollen im September 2024 eingereicht werden. Ob dann die Schuldenstände der EU-Staaten nachhaltig sinken, bleibt aber offen. "Wir wissen nicht, wie es gelebt werden wird", resümiert etwa Fiskalratspräsident Christoph Badelt. "Außerdem ist es deutlich komplizierter als ursprünglich beabsichtigt." Eine Beobachtung, mit der er angesichts der Sonderregeln wohl nicht allein dasteht. (Nicolas Dworak, 12.2.2024)