Fast kein Land der Welt boomt gerade wirtschaftlich derart wie Indien. Der 1,4-Milliarden-Einwohner-Staat in Südasien erlebt einen Aufschwung sondergleichen. Das Wirtschaftswachstum wird heuer rund 6,4 Prozent betragen. In den kommenden Jahren soll es weiter ansteigen.

Dem Boom liegen unter anderem geopolitische Verschiebungen zugrunde: Staaten und Konzerne wollen sich weniger von China abhängig machen und weichen auf Indien aus. Aber auch die hindunationalistische Regierung unter Premier Narendra Modi hat ihren Anteil daran. Sie verbindet einen immer autoritäreren politischen Kurs mit wirtschaftsfreundlichen Maßnahmen, beispielsweise der Vereinheitlichung des Steuersystems über Indiens 28 Bundesstaaten hinweg.

Infosys Campus Indien Bangalore
Bangalore ist das Zentrum des indischen Tech-Sektors. Hier befindet sich etwa ein Campus von Infosys.
REUTERS/Vivek Prakash

Nicht überraschend also, dass auch Österreich in Indien vorstellig wird. Eine hochrangige Delegation aus 18 Unternehmensvertretern – von Autozulieferern bis zur Chemie- und Bauwirtschaft – samt Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer bereist dieser Tage das Land. Angeführt wird die Gruppe vom Wirtschaftsministerium unter Martin Kocher (ÖVP). Auf dem Programm stehen etwa die IT-Metropole Bangalore im Süden des Landes und die Hauptstadt Neu-Delhi. Ein Zweck der Reise: schönwettermachen für österreichische Betriebe.

Schönwettermachen für Betriebe

Immerhin betrug der Wert der österreichischen Exporte nach Indien im Jahr 2022 gerade einmal 1,19 Milliarden Euro – auch wenn das einen starken Zuwachs im Vergleich zu früher darstellt, bleibt viel Luft nach oben. Dies gilt umso mehr wegen umfangreicher Investitionspakete, die Modis Regierung aufgesetzt hat. Allein für die Erneuerung und Dekarbonisierung indischer Städte sieht die Regierung 137 Milliarden Euro vor. Vieles davon betrifft Bereiche, in denen österreichische Unternehmen stark sind.

In Bangalore treffen Kocher und die Unternehmensvertreter etwa Regionalminister des Bundesstaats Karnataka, der als Knotenpunkt für IT- und Biontechnologie-Start-ups gilt. Dazu besucht man indische Unternehmen, Universitäten und Start-up-Zentren. Überall liegt neues Selbstbewusstsein in der Luft; allerorts preist man die Innovationskraft und die vielversprechenden weiteren Entwicklungsmöglichkeiten Indiens. Bangalore zählt dank seiner dynamischen Wirtschaft seit langem zu den schnellstwachsenden Städten weltweit.

Schweigen über Modi

Bei alldem gibt es aber einen Elefanten im Raum. Ein Name und ein Thema kommen in all den Gesprächen und Präsentationen im Rahmen des Kochers-Besuchs interessanterweise nicht vor, weder auf indischer noch auf österreichischer Seite: Modi und seine autoritäre Politik.

Dabei finden in Indien gerade politische Verschiebungen statt, die durchaus auf die Wirtschaft des Landes rückwirken können. Immer öfter werden Oppositionspolitiker und etwa kritische Journalisten mundtot gemacht. Vor allem hetzt Modi die hinduistische Mehrheit in Indien gegen die muslimische Minderheit auf, die rund 13 Prozent der Bevölkerung stellt.

Ein vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung wurde Ende Jänner erreicht: Da wurde in der Stadt Ayodhya im Norden des Landes ein halbfertiger hinduistischer Tempel, der größte im Land, für den Gott Ram eingeweiht. Er steht an einem Ort, an dem sich zuvor eine Moschee befand, die weggerissen wurde. Dessen Schleifung hatten Hindunationalisten jahrzehntelang gefordert; unter Modi wurde aus der einstigen Utopie von Extremisten Wirklichkeit. Zur prunkvollen Einweihung tanzte die komplette indische Wirtschaftselite an – aus Respekt vor Modis wirtschaftlichen Leistungen, aber auch aus Angst vor Schikanen der Regierung infolge eines Fernbleibens, wie der britische "Economist" analysierte.

"Theokratisisierung"

Im kleineren Maßstab stecken Österreichs Unternehmen im selben Dilemma. In Hintergrundgesprächen mit Wirtschaftstreibenden werden durchaus Sorgen wegen möglicher politischer Repressalien laut. Die Rede ist von einer "Theokratisierung", die in Indien stattfinde – mit unklaren Folgen. Immerhin: Auch in China war es vor einigen Jahren eine Wende hin zu (noch mehr) Autoritarismus, die den Abschwung des einst so hoffnungsfrohen Wirtschaftsraums mitverursachte. Offiziell will aber kein österreichischer Geschäftstreibender zur Entwicklung Stellung nehmen – immerhin stehen Milliardenaufträge auf dem Spiel, auch des indischen Staates.

"Indien ist ein demokratischer Staat", sagt Martin Kocher im Gespräch mit dem STANDARD und anderen Medienvertretern, angesprochen auf all das. Aber es sei auch "wichtig, für europäische Werten einzutreten". In der Hauptstadt Neu-Delhi – es handelt es sich nach Bangalore um die zweite Station von Kochers Reise – werde er diese Position bei seinen Gesprächspartnern auf Regierungsebene "mit Nachdruck vorbringen", stellt der Minister in Aussicht. Allerdings: "Man kann nicht davon ausgehen, dass diese Positionen jeder teilt." (Joseph Gepp aus Bangalore, 20.2.2024)