Frau gibt einen Löffel grünes Pulver in einen Mixer mit Obst und Gemüse ist. Sie trägt eine Fitnessuhr und ein blaues Hemd, das Gesicht sieht man nicht.
Hippe grüne Pulver und Nahrungsergänzungsmittel versprechen kompromisslose Gesundheit. Doch was genau drin ist, das ist häufig "Betriebsgeheimnis".
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Kompromisslose Gesundheit zum Trinken: Nicht weniger versprechen grüne Pulver, die es im Internet und Einzelhandel zuhauf gibt. Man löst einfach einen Messlöffel in Wasser auf, und schon hat man alles, was der Körper braucht. Und ständig kommen neue Produkte dazu. Sie alle wollen die ultimative Mischung aus Vitaminen, Mineralstoffen und sogenannten Superfoods entdeckt haben.

Worin sie sich unterscheiden, ist schwer zu erkennen. Auf der Verpackungsrückseite sind zwar die Inhaltsstoffe aufgelistet, aber das sagt noch relativ wenig aus. Und das nicht nur für Konsumentinnen und Konsumenten. "Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich keines der Produkte, die im Internet einen Hype erleben, qualitativ hervorheben", sagt Daniel König. Er ist Ernährungsmediziner am Zentrum für Sportwissenschaft der Universität Wien.

Der Körper braucht Vitamine und Mineralstoffe zum Überleben, so weit, so klar. Damit das Immunsystem funktioniert, die Knochen stark bleiben, die Zellen geschützt werden. Er braucht davon aber nicht Unmengen, gesunde Menschen nehmen in der Regel mit der Ernährung genug auf. Warum sollte man also ein grünes Pulver kaufen? Was unterscheidet es von herkömmlichem Obst und Gemüse?

Eines für alle

Zunächst eigentlich nichts, denn die Vitamine, Spurenelemente und sekundären Pflanzenstoffe in den Pulvern werden aus Gemüse und Obst gewonnen. Die grüne Farbe kommt im Normalfall vom Chlorophyll in grünen Gemüsen, ein Stoff, der als großartiges Anti-Aging-Mittel gilt. Denn es soll gut für die Haut sein und die Leber beim Entgiften unterstützen.

Je nach Produkt gibt es meist eine ganz spezielle Geheimrezeptur der Inhaltsstoffe, die nicht offengelegt wird. Einem dieser Pulver begegnet man momentan überall im Internet, auf Youtube, Instagram oder in Podcasts: AG1. Das sei "mehr als ein Greens-Pulver", lautet der Werbespruch vollmundig, und zwar für "alle, die mehr wollen". Man brauche nur dieses eine Ding, und dann sei man optimal versorgt, auf allen Ebenen. Was ist dran an dem "Zauberprodukt"?

Die lange Zutatenliste von AG1 fällt auf. "75 Vitamine, Mineralstoffe, Botanicals, lebende Kulturen und weitere Inhaltsstoffe aus echten Nahrungsmitteln", steht auf der Verpackung. Das klingt nach viel gutem Inhalt. Doch hier zeigt sich schon das erste Problem, sagt Ernährungsmedizinier König: "Es wird nicht bei allen Inhaltsstoffen angegeben, wie viel von welcher Zutat enthalten ist."

Viel hilft nicht automatisch viel

Die schiere Menge an unterschiedlichen Inhaltsstoffen sagt nämlich wenig aus. "Es ist falsch, zu glauben, dass viel auch viel hilft", betont König. Der Körper geht sehr effizient um mit dem, was er bekommt. Hat er mehr Vitamine und sekundäre Pflanzenstoffe zur Verfügung, als er braucht, lagert er die nicht für schlechtere Zeiten ein, sondern scheidet sie aus.

König sieht sogar ein mögliches Risiko in der Fülle an Pflanzenextrakten im Produkt. Man wisse zwar immer mehr über sekundäre Pflanzenstoffe und deren antioxidative Wirkung, zum Beispiel über Resveratol, ein Pflanzextrakt, der in Traubenschalen vorkommt. Über Maximalmengen ist wissenschaftlich aber kaum etwas bekannt. "Und wir wissen nicht, wie diese Stoffe miteinander wirken, die können in Kombination oder in hohen Dosen durchaus negative Folgen haben."

Unternehmen argumentieren diese fehlende Offenlegung oft mit dem Betriebsgeheimnis. Auch AG1 schreibt auf STANDARD-Anfrage: "Um die Qualität, Herkunft und das umfassende Fachwissen hinter unserer einzigartigen AG1-Rezeptur zu schützen, setzen wir auf eine spezielle Produktmischung."

Tatsächlich ist AG1 schon seit über zehn Jahren am Markt, die Rezeptur verändert sich aber regelmäßig. Sie wird von einem eigenen Wissenschaftsteam optimiert, wie AG1 gegenüber dem STANDARD sagt. Neu ist, wie stark das Produkt im Internet beworben wird.

Gesundheit als Monatsabo

Viele Kundinnen und Kunden werden über Podcaster und Influencerinnen erstmals darauf aufmerksam, Silvana zum Beispiel (voller Name der Redaktion bekannt). Die 67-Jährige hat im Podcast von Andrew Huberman zum ersten Mal davon gehört. Der US-amerikanische Neurowissenschafter von der Stanford School of Medicine hat in sozialen Medien einen regelrechten Rockstarstatus.

Seit drei Monaten nimmt Silvana das Pulver nun. Schon nach ein paar Tagen hat sie erste Auswirkungen gespürt, erzählt sie: "Auf einmal hatte ich den Drang, mich mehr zu bewegen, um meinen Körper fit zu halten." Vor allem die Wintermonate habe sie so fit wie noch nie überstanden. "Meine Konzentration hat sich auch verbessert. Und die gelegentlichen nächtlichen Beinkrämpfe sind verschwunden."

Silvana nimmt die vom Hersteller empfohlene Tagesration von zwölf Gramm und mixt das Pulver mit etwas Obst zu einem Smoothie. Die smaragdgrüne Packung erhält sie automatisch jeden Monat vor die Haustür. Ein Knebelvertrag sei das aber nicht, das Abonnement könne sie jederzeit kündigen. Aber für sie ist klar: "Ich fühle mich insgesamt wohler, seit ich AG1 nehme." Das monatliche Investment ist es ihr wert.

Es geht auch günstiger

Als Investment kann man es tatsächlich bezeichnen, der Preis ist nicht ohne. Knapp 90 Euro kostet eine Packung mit 30 Portionen. Shaker, Messlöffel und Edelstahldose kommen beim ersten Kauf gratis dazu. Und ein Fläschchen mit einem Jahresvorrat Vitamin D ist dabei, das ist nämlich als einziger wichtiger Nährstoff nicht Teil der Rezeptur.

Dabei gibt es Ähnliches viel günstiger. "Es gibt schon um rund zwei Euro Multivitamin- und Mineralstoffprodukte im Drogeriemarkt. Meistens zwar ohne Pflanzenstoffe, dafür weiß man, wie viel von welchem Inhaltsstoff enthalten ist", sagt Ernährungsmediziner König. Zwei Euro für einen ganzen Monat, wohlgemerkt, nicht für einen Tag.

So ein Abonnement mit monatlicher Lieferung ist bei Produkten im Netz aber ein beliebter Vertriebsweg, bringt es doch fixe Einnahmen und langfristige Kundenbindung. So verdient man auch das Geld für Neukundenmarketing. Auf STANDARD-Anfrage erklärt AG1 den hohen Preis mit der unternehmensinternen Forschung und der Beschaffung von Inhaltsstoffen.

Spitzensportliches Engagement

Dabei dürfte vor allem die Vermarktung teuer sein. Denn AG1 hat auffallend viele Sponsorings im athletischen Bereich, den Global Ironman etwa, und das gleich für mehrere Jahre. Auch die Athleten selbst werden unterstützt. Sam Laidlow, jüngster Ironman World Champion, stellt seinen neuen Sponsor auf Instagram so vor: "This, my friends, is going to make me win".

Ironman-Athlet Sam Laidlow spricht in seiner Instagram-Story über AG1.
Der französische Triathlet Sam Laidlow stellt auf seinem Instagram-Kanal seinen neuen Sponsor vor. "This, my friends, is going to make me win", sagt er. Kurz danach wird er tatsächlich Ironman-Weltmeister.
Instagram/Sam Laidlow

Formel-1-Ass Lewis Hamilton investiert sogar in das Unternehmen. Und der österreichische Extrembiker Christoph Strasser schreibt auf seiner Website: "Ein besserer Radfahrer werde ich durch AG1 sicher nicht, aber mein Körper bekommt dadurch täglich wichtige Nährstoffe. Und wenn ich es schaffe, meinen Körper von innen zu unterstützen, habe ich das Gefühl, besser trainieren zu können."

Das sollen zum Beispiel Spurenelemente wie Kupfer, Selen und Zink bewerkstelligen, indem sie bei der Muskelerholung helfen, teilt das Unternehmen mit. Aber: "Es gibt keine Evidenz aus kontrollierten Studien an Menschen, dass sie das tun", sagt Ernährungsmediziner König. Außerdem benötigen die meisten Menschen nicht mehr davon als das, was sie über die Ernährung aufnehmen. Wenn man zwei- bis dreimal so viel zu sich nimmt, wie der Körper braucht, hat das keinen zusätzliche Nutzen.

Auch bei Topathletinnen und Sportlern gilt also: Viel hilft nicht automatisch viel. "Auch im Spitzensport gibt es keine Trainingssituation, in der ich den Vitamin- und Nährstoffbedarf theoretisch nicht auch über normale Ernährung decken kann", sagt König.

Zeit-Mengen-Problem

Theoretisch. Praktisch steht man als Sportlerin oder Sportler manchmal vor einem Zeit-Mengen-Problem. Bei intensivem Training erhöht sich nämlich der Nährstoffbedarf. Man hat aber nicht immer die Zeit, diesen so ausgewogen zu bedienen, wie es die Ernährungspyramide vorsieht.

Wenn daraus ein Mangel entsteht, bringt das Gießkannenprinzip aber wenig, man müsse ihn zunächst quantifizieren und dann gezielt mit Nahrungsergänzungsmitteln arbeiten, sagt König. "Man hat als Athletin oder Athlet nicht prinzipiell ein Defizit in allen Bereichen.“

Auch die Ernährungswissenschafterin Marlies Gruber vom Forum Ernährung heute sieht es kritisch, wenn man schon vorbeugend auf Nahrungsergänzungsmittel zugreift. "Es gibt in solchen Fällen immer auch das Risiko einer Überdosierung", sagt sie. Und erinnert an das Food-first-Prinzip, also Nährstoffe vorwiegend über die Ernährung aufzunehmen. "Für positive gesundheitliche Effekte ist nämlich nicht nur die Menge einzelner Nährstoffe wichtig, sondern auch deren Zusammenwirken mit allen anderen Lebensmitteln und Nährstoffen."

So brauchen zum Beispiel fettlösliche Vitamine wie Vitamin A und Vitamin E Fett als Transportmittel. Wenn man AG1 wie empfohlen einnimmt, nämlich morgens auf nüchternen Magen, ist der Körper für diese Stoffe aber nur eine Schleuse auf dem Weg in die Toilette.

Unklarer Effekt

Wie erklären sich dann die positiven Erfahrungsberichte von Menschen wie Silvana? Einerseits haben die im Pulver mitgelieferten Vitamine theoretisch natürlich ihre Daseinsberechtigung. Vitamin C spielt beispielsweise eine wichtige Rolle für das Immunsystem. 420 Milligramm nimmt man pro Portion AG1 zu sich.

Das ist sehr hoch dosiert. Das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung empfiehlt eine Höchstmenge von 250 Milligramm pro Tag. Nimmt man mehr auf, als man verbraucht, gilt auch hier: Den Überschuss scheidet man ohne positiven Effekt aus. Dabei ist es egal, ob die Vitamine mit der Nahrung oder in konzentrierter Form in den Körper kommen. "Reinsubstanzen garantieren nicht, dass der Körper sie besser aufnimmt", erklärt König. Im Gegenteil, es hat sogar einen Vorteil, wenn sich Stoffe nicht extrem schnell anfluten, sondern den Zellen langsam, aber kontinuierlich zur Verfügung stehen.

Auf STANDARD-Nachfrage betont das Unternehmen aber den positiven Effekt und verweist auf Studien, die es selbst finanziert hat. Sie sollen die förderliche Wirkung von AG1 auf den menschlichen Organismus belegen. Es handelt sich dabei aber um In-vitro-Studien, die im Labor durchgeführt wurden. "Das ist kein Beweis dafür, dass solche Ergebnisse auch am lebenden Menschen wirken und ihn gesund machen oder gesund erhalten", sagt König.

Auch externe Studien, die einzelne Substanzen oder Zweier- und Dreierkombinationen im Produkt untersuchen, stellt AG1 für den STANDARD bereit. Die hat AG1 nicht finanziert, trotzdem ist keine der Studien aussagekräftig. Untersucht wurden darin etwa Tiere oder Personen mit Vorerkrankungen. Außerdem wurde in den Studien nicht die gesamte Rezeptur untersucht.

Verstärkungseffekt

Es gibt aber einen Grund, warum man sich mit dem grünen Pulver besser fühlen kann. Es ist der Akt selbst, etwas Gesundes zu konsumieren. "Das ist dann ein Verstärkungs- und eventuell Placeboeffekt. Man schaut aufgrund der Investition noch mehr auf seine Gesundheit", weiß König. Das bestätigt auch eine Studie, die AG1 selbst durchführen ließ: Die 35 Probandinnen und Probanden "hatten das Gefühl, dass sie sich lieber gesund ernährten und ungesunde Gewohnheiten mieden, als sie AG1 in ihren Tagesablauf einbauten", heißt es auf der Website.

Insgesamt bleibt unklar, welchen Nutzen AG1 bei einer ausgewogenen Ernährung bieten kann. Dass man dank des Pulvers weniger Obst und Gemüse essen kann, dieser Schluss trügt jedenfalls. König bringt es recht emotionslos auf den Punkt: "Wir wissen nicht, ob es etwas Positives macht. Wir wissen aber auch nicht, ob es etwas Negatives macht." (Andrea Gutschi, 2.3.2023)