Nikotinbeutel, Rauchen
In Österreich fallen Nikotinbeutel nicht unter das Tabakgesetz. Suchtexperten fordern deshalb schon seit längerem eine Anpassung.
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Michael Hutters Umstieg auf Nikotinbeutel begann mit einem Verbot. Der Chef seiner neuen Arbeitsstelle erlaubte ihm keine "Tschickpausen" mehr. Deshalb holte sich Hutter das Nikotin über die kleinen Beutel, die er sich zwischen Oberlippe und Zahnfleisch steckte. "Das hat niemand gerochen, und ich konnte trotzdem arbeiten", sagt der 25-Jährige. Kontinuierlich schraubte er die Dosis nach oben, von einem auf fünf Beutel am Tag. "Ich hab das ganz schnell in den Alltag integriert. Es war das Erste, das ich beim Aufwachen nahm, und das Letzte vor dem Schlafengehen."

Hutter, der eigentlich anders heißt, ist damit nicht der Einzige. Die kleinen Päckchen, die keinen Tabak, dafür aber synthetisches Nikotin, Aromen und Süßstoffe enthalten, sind zwar noch nicht bei der Masse angekommen, werden aber gerade unter jungen Menschen immer beliebter. Laut dem kürzlich erschienenen Suchtmittelbericht der Gesundheit Österreich GmbH konsumierten 2022 rund vier Prozent der 15- bis 34-Jährigen gelegentlich bis täglich Nikotinbeutel. Dieser Anteil dürfte laut Suchtexperten zuletzt gestiegen sein.

Während einige Experten darin eine "Verlagerung der Suchtproblematik" sehen, feiern Tabakkonzerne diese Entwicklung als Erfolg im Kampf gegen die Zigarette. Ist der Trend zu rauchfreien Alternativen ein Grund zur Freude oder doch eher zur Beunruhigung?

"Mach's, wo und wann du willst"

"In meinem Freundeskreis nehmen fast alle Nikotinbeutel zum Runterkommen und gegen den Stress", sagt Hutter. Dadurch sei er auch selbst auf die "praktische Alternative" gestoßen, die er sich fortan in den Trafiken besorgte: bunte Dosen mit Aromen wie "Tropic Breeze", "Ice Cool" oder "Freeze", die in Österreich offiziell seit 2019 verkauft werden. "In Wien wird dafür überall geworben", sagt Hutter. Auf großen Plakaten, die neben Bushaltestellen angebracht sind, mit Sprüchen wie: "Mach's, wo und wann du willst" oder "Kein Rauch. Keine Asche. Wonderful.".

Für die Tabakindustrie sollen solche Alternativen ein neues Zeitalter einer sauberen, gesünderen und rauchfreien Zukunft einleiten. So auch für den weltweit größten Tabakhersteller Philip Morris International. Mehr als ein Jahrhundert lang hat sich das Unternehmen mit Zigaretten eine goldene Nase verdient. Nun will ausgerechnet die Tabakindustrie dazu beitragen, den gesundheitsschädlichen Glimmstängeln ein Ende zu bereiten.

"Vorbild" Schweden

Bis 2030 will Philip Morris zwei Drittel der Nettoumsätze mit Alternativen wie E-Zigaretten oder Nikotinbeuteln erzielen – und Raucherinnen und Rauchern damit helfen, von der klassischen Zigarette loszukommen, hieß es vor kurzer Zeit bei einer Pressekonferenz. Damit soll auch das EU-Ziel erreicht werden, den Anteil der Raucherinnen und Raucher an der Gesamtbevölkerung bis 2040 auf unter fünf Prozent zu drücken.

Vorbild für diese Entwicklung ist laut der Tabakindustrie Schweden. Dort rauchen nur noch rund sieben Prozent der Bevölkerung täglich oder gelegentlich Zigaretten – eine Entwicklung, die die Unternehmen vor allem mit der Verbreitung rauchfreier Alternativen wie Nikotinbeutel und Snus begründen. Zum Vergleich: In Österreich liegt der Raucheranteil nach wie vor bei 25 Prozent. 2022 kaufte Philip Morris den schwedischen Snus- und Nikotinbeutelhersteller Swedish Match, seit Anfang des Jahres will der Konzern mit seinen Produkten auch in Österreich den schwedischen "Erfolgslauf" im Kampf gegen die Zigarette fortsetzen.

In Schweden wird Snus seit einigen Jahren als Alternative zu Zigaretten beworben. Überall anders in der EU sind hingegen nur tabakfreie Nikotinbeutel erlaubt.
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Keine nationale Regelung

Die Rahmenbedingungen könnten dafür kaum besser sein. Zwar ist Snus, das ähnlich aussieht wie Nikotinbeutel, aber neben Nikotin auch Tabak enthält, mit Ausnahme von Schweden überall in der EU verboten. Für Nikotinbeutel, die keinen Tabak enthalten, gibt es in Österreich aber hingegen kaum Beschränkungen, da das Produkt nicht vom Tabak- und Nichtraucherschutzgesetz erfasst wird.

Suchtexperten ist das seit längerem ein Dorn im Auge. "Es ist unglaublich, dass es Österreich immer noch nicht geschafft hat, Nikotinbeutel gesetzlich zu regulieren", sagt Rainer Schmidbauer, Leiter des Instituts Suchtprävention der Pro Mente Oberösterreich. Zwar haben einzelne Bundesländer wie Vorarlberg und kürzlich auch Oberösterreich Nikotinbeutel ins Jugendschutzgesetz aufgenommen – Nikotinbeutel dürfen dort nicht mehr an unter 18-Jährige verkauft werden. Eine nationale Regelung fehle jedoch. Es sei weder geregelt, wo für solche Produkte geworben werden dürfe, noch, wie viel Nikotin diese enthalten dürften oder welche anderen Inhaltsstoffe in den Produkten enthalten sein dürften.

"Fatale Kombination"

"Das ist ziemlich problematisch, weil Nikotinbeutel eine ziemlich fatale Kombination sind", sagt Schmidbauer. Sie enthielten mit Nikotin eine psychoaktive Substanz, die sehr stark und schnell abhängig mache, sie seien leicht und überall verfügbar und einsetzbar und zielten gerade auf junge Menschen in sozialen Medien ab, indem sie den Produkten ein trendiges, modernes, weniger gesundheitsgefährdendes und sauberes Image gäben.

Ähnlich sieht es auch Waltraud Posch von Vivid, der Fachstelle für Suchtprävention. "In meinen 16 Jahren in der Suchtprävention sind mir noch nie so viele Fälle von Nikotinvergiftung untergekommen wie in letzter Zeit", sagt sie. Besonders Lehrpersonen und Eltern würden immer wieder von derartigen Fällen berichten. "Das Problem ist, dass bei Nikotinbeuteln kein Nikotinhöchstgehalt festgehalten ist und der Konsument meist nicht weiß, wie viel wirklich drin ist." Dadurch, dass Nikotinbeutel nicht reguliert und leicht verfügbar seien, werde ihre Gefährlichkeit viel niedriger eingeschätzt. "Wir fördern damit eine neue Form von Nikotinabhängigkeit."

"Schadensminimierung"

Nicht alle sind Nikotinbeuteln gegenüber so negativ eingestellt. "Aus gesundheitlicher Sicht ist es besser, wenn Menschen statt Tabak auf diese Alternativen umsteigen", sagt Gabriele Fischer, Leiterin der Suchtforschung und Suchttherapie an der Med-Uni Wien. Denn kaum ein Ersatzprodukt könne es in seiner Schädlichkeit mit der klassischen Zigarette aufnehmen. Eine solche "Schadensminimierung" sei deshalb grundsätzlich zu begrüßen. Nikotin sei an sich kein so großes Problem, solange es nicht übermäßig konsumiert werde. "Bei zwei Nikotinbeuteln am Tag sehe ich kein Problem."

Zigaretten, Rauchen
Im Vergleich zu Zigaretten schneiden die meisten Nikotinalternativen aus gesundheitlicher Sicht besser ab.
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Allerdings heißt das nicht, dass rauchfreie Alternativen Zigaretten immer ersetzen. "Ich habe auch mit den Nikotinbeuteln nicht mit dem Rauchen aufgehört", sagt Hutter. Wenn er im Stress gewesen sei, beispielsweise in der Arbeit, habe er eher zu Nikotinbeuteln, ansonsten nach wie vor zu Zigaretten gegriffen. "Der Effekt durch das Nikotin war bei den Beuteln definitiv höher." Wenn er die Beutel über die volle Länge von 30 Minuten im Mund gelassen habe, habe er öfter Kopfschmerzen und Schwindel bekommen. Wenn er einmal keinen Beutel nehme, falle ihm das viel stärker auf, als wenn er auf eine Zigarette verzichte.

Warnhinweise auf der Verpackung

Dass Alternativprodukte wie Nikotinbeutel die Raucherquote drücken könnten, sei "Blödsinn" und ein Marketinggag der Industrie, sagt Lisa Brunner von der Österreichischen Arge Suchtvorbeugung. "Wir brauchen die Industrie nicht dafür, dass sie ein weiteres Produkt auf den Markt bringt." Es gebe bereits genug Arzneimittel in Apotheken, die tatsächlich etwas gegen eine Nikotinabhängigkeit tun könnten und wesentlich besser geregelt seien. "Dass Nikotinbeutel gesetzlich nicht geregelt sind, spielt allein der Industrie in die Hände."

"Wichtig ist, dass es möglichst schnell eine Höchstgrenze für Nikotin gibt, das in den Beuteln enthalten sein darf", fordert Posch. Zudem brauche es ein Verbot von Werbung und Sponsoring solcher Produkte, Warnhinweise auf Verpackungen sowie eine höhere Besteuerung. Nikotinbeutel müssten möglichst rasch ins Tabakgesetz aufgenommen werden. Dieser Vorschlag hänge seit Jahren bei der ÖVP als Koalitionspartner fest.

"Natürlich können solche Produkte auch falsch verwendet werden. Eine Überregulierung halte ich aber für nicht zielführend", sagt Fischer. Was sie besonders störe, seien nicht die Nikotinbeutel an sich, sondern die Verbote, mit denen einzelne Bundesländer nun vorpreschen würden. "Ich halte das für Populismus." Schließlich könnten Jugendliche einfach über die Grenze in ein anderes Bundesland fahren und sich die Beutel dort kaufen. Schon die Vergangenheit habe gezeigt, dass solche Verbote meist wenig bringen, weil sich Menschen die Produkte immer über andere Wege besorgen.

Bessere Aufklärung

Stattdessen plädiert Fischer für eine bessere Aufklärung über einen gesunden Lebensstil und besseres Stressmanagement, vor allem auch bei Jugendlichen. Dafür müssen neben dem Rauchen vor allem die Ernährung und der Alkoholkonsum in den Blick genommen werden. "Wir müssen hin zu einer Präventionsmedizin, die alle Gesundheitsaspekte in den Blick nimmt", sagt Fischer.

Michael Hutter hat vor eineinhalb Monaten sowohl mit dem Rauchen als auch mit den Nikotinbeuteln aufgehört, nachdem er zuvor einen Arbeitsunfall gehabt hatte. "Ein Nervengift ist nicht gerade hilfreich, um wieder gesund zu werden", sagt er. Die Entzugserscheinungen mit Unruhegefühl und Nervosität seien vor allem in den ersten zwei bis drei Wochen stark gewesen. "Auf Zigaretten zu verzichten war einfacher." Als Ausgleich zu den Beuteln lutscht er jetzt Zuckerln. Dennoch wünsche er sich die Nikotinbeutel häufig zurück, gerade in Stresssituationen oder bei Langeweile. "Wer einmal so etwas nimmt, kommt so schnell nicht mehr davon weg." (Jakob Pallinger, 22.2.2024)