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Renate Kaufmann hat auf Social Media über 240.000 Fans. Ihr erstes Video drehte sie im Campingurlaub mit den Enkeln.
Heribert Corn

Renate Kaufmann steht inmitten ihrer silbergrauen Küche. "Sechs Quadratmeter", sagt sie, lacht und dreht sich in ihrem Reich einmal um die eigene Achse. Immerhin ist Platz für Videodrehs. Dafür montiert sie eines ihrer zwei Smartphones auf einem Stativ, baut sich vor der Kamera auf und erklärt die Herstellung von Mayonnaise, Suppenpulver oder Grießnockerlsuppe. Kaufmann trägt ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift "Frag die Oma" und auf den Wangen einen Hauch Rouge: "Meine Enkelin hat mir geraten, mich für Auftritte zu schminken."

Die 68-Jährige ist nämlich Influencerin – und in ihrem Segment eine echte Größe. Auf der Plattform Tiktok hat ihr Account Frag die Oma mehr als 105.000 Follower, auf Instagram über 170.000 Fans. Heute früh war sie wie so oft in der ORF-Sendung Guten Morgen Österreich zu sehen, schon auf dem Weg ins TV-Studio auf dem Küniglberg hat sie die erste In­stagram-Story gedreht. Jetzt öffnet sie für den Fotografen die Kühlschranktür und holt ein Glas hervor. "Wollts mal riechen?" Der Sauerteig gehört zu ihren Klassikern: "Wasser, Roggenmehl Typ 960, ein Gefäß und Klarsichtfolie zum Abdecken". Schon vor fünf Jahren hat sie das Rezept veröffentlicht: Damals startete die Seniorin ihr Blog.

Man darf sich Renate Kaufmann als eine Frau vorstellen, die viele Interessen hat, die immer in Bewegung ist. "Nichtstun wäre das Schlimmste", erklärt sie. 13 Jahre lang war sie in Wien-Mariahilf Bezirksvorsteherin. Inzwischen hat die 68-Jährige vier Enkel. "Nur" Oma ist sie allerdings nicht. Gesunde, hausgemachte Rezepte und Haushaltstipps an alle weiterzugeben ist jetzt ihre Mission.

Die Sache mit den Videos hat allerdings reichlich unspektakulär begonnen. Die Geschichte, die sie bereits einigen Medien erzählt hat, geht so: Kaufmann saß im Campingurlaub vor dem Wohnwagen und machte Butter mit gehacktem Knoblauch und Salz. "Das musst du unbedingt auf Tiktok zeigen", riet ihr Enkel und ließ nicht locker.

Gemeinsam mit den Enkeln

Die Oma ließ sich auf den Vorschlag ein. Bereits das erste Video wurde von ein paar Tausend Menschen angeschaut und zum Startschuss für die späte Social-Media-Karriere von Renate Kaufmann. Sie ist heute Vertreterin einer besonderen Spezies – die der kochenden und backenden Social-Media-Omas.

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Bevor Renate Kaufmann auf ihrem Blog, auf Instagram und Tiktok Rezepte veröffentlichte, arbeitete sie als Lehrerin, in der IT sowie in Wien-Mariahilf als Bezirksvorsteherin.
Heribert Corn

Für Florian Bösenkopf von der Wiener Marketingagentur Influence Vision ist der beiläufige Einstieg der Wienerin ein Klassiker. "Oft wird den Enkeln ein Rezept gezeigt, das diese dann online stellen", erklärt er. Auch die Niederösterreicherin Gertrude Lechner, bekannt als Trude-Oma, ist so ein Beispiel. Sie verdankt ihre Bekanntheit in den sozialen Medien Enkelin Kathrin, die seit Jahren Videos von ihrer Oma postet. Weil die Nachfrage nach alten Rezepten von Trude-Oma besonders groß war, gibt es mittlerweile ein Buch mit ihren Lieblingsgerichten, von Fleischknödeln bis Stosuppe. Viele Großeltern betrieben ihre Social-Media-Accounts zum Spaß, den meisten gehe es nicht um das schnelle Geld, meint Bösenkopf. Für Renate Kaufmann stehen das Thema Ernährung und der Austausch mit Gleichgesinnten im Vordergrund. Den findet sie vor allem auf der Plattform Instagram. Dort ist das Publikum älter, "aber auch interessierter", sagt sie.

Kaufmann weiß, wovon sie spricht. Sie nimmt die Sache ernst. Und weiß genau, was gut ankommt (Hausmannskost und außergewöhnliche Rezepte). Ihre Videos dreht und schneidet sie selbst. Mindestens eine Stunde lang beantwortet die Granfluencerin täglich Fragen oder Kommentare. Beim Abwaschen und Aufräumen hilft der Ehemann, manchmal taucht er als "Küchenelf" in Kaufmanns Videos auf. Das Erfolgsrezept von Frag die Oma? Die solide Arbeitsweise, glaubt die Macherin. "Wenn ich ein Rezept veröffentliche, muss es hieb- und stichfest sein." Auf vage Mengenangaben versucht sie zu verzichten, allein der Kochanfänger wegen.

Die Großmütter haben in den vergangenen zehn Jahren mit ihren Rezepten die sozialen Netzwerke erobert. Zu den Pionierinnen gehören die Pasta Grannies. 2014 ging der gleichnamige Youtube-Kanal online. Hinter ihm steckt allerdings keine technikbegeisterte Nonna im Stil einer Renate Kaufmann, sondern die britische Journalistin Vicky Bennison. Sie machte die 103-jährige Irma mit ihren handgemachten Tagliatelle oder Maria, die 90-jährige Fettucine-Spezialistin, zu Stars.

Pasta à la Mama

Auf Instagram folgen den Pasta Grannies 1,1 Millionen Accounts, auf Youtube hat der Kanal 960.000 Follower. Das Geheimnis der älteren, beschürzten Frauen? Viele Leute fühlten sich durch sie an ihre eigenen Großmütter erinnert, selbst wenn sie nicht gekocht haben, erklärte Bennison einmal in einem Interview. Damit die Auswahl der Protagonistinnen "authentisch" bleibt, castet eine in der Emilia-Romagna lebende Italienerin die Grannies vor Ort. 2020 veröffentlichte die findige Britin dann das erste Buch mit den besten Rezepten der Omas, im vergangenen Jahr folgte mit Pasta Tradizionale der zweite Streich.

Die kochenden Großmütter im Internet sind ein kulturübergreifendes wie diverses Phänomen. Die indische Granny Mastanamma, Jahrgang 1911, war bis zu ihrem Tod 2018 Star des Youtube-Kanals Country Foods, beim Kochen saß sie auf dem Boden. Amar Kaur, die Punjabi-Großmutter hinter dem Youtube-Account Veg Village Food, verarbeitet Zutaten wie Kichererbsen in gigantischen Behältnissen zu Falafeln.

Die achtfache Oma Barbara Costello alias Brunchwitbabs ist mit ihren 3,9 Millionen Followern auf Tiktok die polierte, US-amerikanische Version der Social-Media-Grannies. Und die im Jänner verstorbene New Yorker Tiktok-Köchin Lynn Yamada Davis, besser bekannt unter dem Online-Pseudonym Lynja, unterhielt ihre 21,7 Millionen Fans mit unkonventionellen Koch-Stunts.

Gegenentwurf zu Sterneköchen

Möglicherweise werden die Küchen-Granfluencerinnen auf Social Media als zugänglicher Gegenentwurf zu den sternedekorierten Fernsehköchen und ihren kompetitiven ­Küchenschlachten wahrgenommen: Hausmannskost versus Sterneküche, Siebziger­jahreherd versus moderne Hochglanzküche, Schürze contra Kochjacke. Der Ausdruck "bei Oma schmeckt’s am besten" spiegelt sich auch in den sozialen Medien wieder. "Kochende und backende Oma-Influencerinnen wirken authentisch und funktionieren extrem gut", sagt Marketingexperte Florian Bösenkopf.

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Mengenangaben, so sagt, Kaufmann, müssen hieb- und stichfest sein. Auf vage Angaben versucht sie tunlichst zu verzichten.
Heribert Corn

Auch offline lässt sich mit dem nostalgischen Oma-Image Geld verdienen. In Wien backen seit über zehn Jahren Seniorinnen Torten und Kuchen für das Café Vollpension, das Motto des Unternehmens: "Sei unser Gast und lass’ dich von der Omama verwöhnen." Auch die männlichen Profiköche sind auf den Geschmack gekommen. Konstantin Filippou setzt in seinem neuen Wiener Restaurant auf die griechische Tradition von Mama Konstantina, beworben wird das Lokal mit Bildern des Profikochs an der Seite seiner Mutter – sieht sie nicht wie eine Pasta-Granny aus? Auch Wolfgang Puck widmet die neueste Lokaleröffnung Camara der Küche seiner Mutter: In Los Angeles sollen nun Kasnudeln und Gemüsesuppe "à la Mama Puck" serviert werden.

Omas an den Herd

Man kann die Kochlöffel schwingenden Omas als späte Karrierefrauen bezeichnen, das romantisierte Bild der "Frau am Herd" sollte gleichzeitig hinterfragt werden. Ihr Erfolg in den sozialen Netzwerken und auf dem Kochbuchmarkt spiegelt jedenfalls die Sehnsüchte nach konventionellen Frauenbildern wieder. Und die verbinden viele offenbar mit ihren Müttern und Großmüttern, überwiegend Frauen jenseits der sechzig. Kochende Opas sind hingegen rar gesät. "Bis das mit den älteren Männern in der Küche funktioniert, dauert’s noch Jahrhunderte", sagt Renate Kaufmann und grinst. Sie denkt vielleicht an ihren Mann. Der räumt ihr zwar regelmäßig hinterher, hat aber mit Kochen wenig am Hut. Sie hingegen stand schon als Bezirksvorsteherin abends um neun in der Küche, freiwillig: Gekocht habe sie während ihrer Berufstätigkeit, um runterzukommen.

Heute ist Kaufmann im Austausch mit ihren Followerinnen und Followern oft mit dem Verlangen nach einer heilen Welt konfrontiert. Das Bild der kochenden Großmutter gehört für viele dazu. "Ich hätte so gern eine Oma gehabt", wird dann unter ihren Rezepten kommentiert. Um Feiertage wie Weihnachten herum häufen sich die emotionalen Äußerungen. Laut einem Bericht des US-amerikanischen Magazins The Atlantic aus dem Jahr 2022 sorgt vor allem die nostalgisch gestimmte, zwischen 1996 und 2009 geborene Generation Z für den Höhenflug der Grannies in den sozialen Netzwerken: Ob Familienrezepte, Haushaltstipps oder Anekdoten aus der Vergangenheit, die Älteren geben in bewegten Zeiten Halt, sie sorgen für digitale Lagerfeuerromantik – und werden offenbar zur positiv besetzten Projektionsfläche. Die männlichen Babyboomer haben hier ganz klar das Nachsehen. Wären sie doch öfter mal in der Küche gestanden und hätten Pasta gekocht. (Anne Feldkamp, 24. 2. 2024)