Unser Autor plädiert für eine lebendige, offene Kulinarik
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In Österreich blickt man bekanntlich gerne in die Vergangenheit – zurück in eine Zeit, als in Wien noch der gütige Kaiser regierte und man in Ost- und Südeuropa noch zahlreiche Völker unterdrücken durfte. In diesen seligen, von Glanz und Größe geprägten Jahren, so heißt es, sei die Wiener Küche entstanden – ein einzigartiger Küchenstil, der von Menschen aus allen Winkeln der Habsburgermonarchie geprägt wurde und somit den multikulturellen Aspekt der vermeintlich so weltoffenen Kaiserstadt widerspiegelt. So zumindest geht die Erzählung.

Ob es sich um eine Legende oder um die historische Realität handelt, spielt jedoch weniger eine Rolle als die Frage, wieso eine vergangene kulinarische Multikulturalität bewahrt und hochgehalten, ja gar zu einem Teil der nationalen Identität erklärt und subventioniert gehört, während all diese Ehren einer in der Gegenwart unbestreitbar existierenden Multikulturalität verwehrt bleiben sollten?

Genau darauf zielt jene Prämie ab, die von der schwarz-blauen Landesregierung in Niederösterreich geplant ist und nur an Wirtshäuser ausbezahlt werden soll, die sich durch ein "traditionelles und regionales Speisenangebot" auszeichnen. Die logische Folge wäre, dass Politiker und Politikerinnen darüber zu entscheiden hätten, wo Tradition beginnt und wo sie endet. Und ob das eine Entscheidung ist, die man tatsächlich Politikerinnen oder Beamten überlassen will, bleibt dahingestellt.

Cevapcici-Verbot in Triest

Wozu das führen kann, zeigt ein Beispiel aus Triest. Dorthin zog der Autor dieses Textes vor nun bald acht Jahren. Damals wurde die Stadt noch von einer sozialdemokratischen Regierung verwaltet. Diese hatte einige Jahre zuvor ein recht sympathisches Projekt gestartet, bei dem in den öffentlichen Schulkantinen einmal im Monat ein Gericht serviert wurde, das die Küche einer in der ehemaligen Habs­burgerhafenstadt lebenden Gemeinschaften repräsentiert. Also etwa ein thailändisches Curry oder einen marokkanischen Couscous. Dann gewann die damalige Berlusconi-Partei die Wahlen, befand das Projekt als überflüssig und stellte es ein.

Unter den Gerichten, die daraufhin aus den Kantinen verbannt wurden, fanden sich auch die aus dem nahegelegenen Balkan stammenden Cevapcici. Das brachte allerdings die Eltern der Schüler und Schülerinnen auf die Barrikaden, weil sie partout nicht einsehen wollten, dass die seit Generationen in Triest sehr beliebten und liebevoll "civa" genannten Cevapcici, mit denen sie großteils selbst aufgewachsen waren, plötzlich als "fremdländisch" gelten sollten.

Unter den Gerichten, die in Triest aus den Kantinen verbannt wurden, fanden sich auch die aus dem nahegelegenen Balkan stammenden Cevapcici.
Unter den Gerichten, die in Triest aus den Kantinen verbannt wurden, fanden sich auch die aus dem nahegelegenen Balkan stammenden Cevapcici.
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Auch in Wien würde es freilich niemandem einfallen, die dort gleichermaßen beliebten "Cewawerln" als exotisch einzustufen. Wenngleich man sie wohl auch nicht zu jenen in Zeiten des Kaiserreichs kodifizierten Speisen zählen würde, die das ausmachen, was man gemeinhin und etwas verklärt unter "Wiener Küche" versteht. Nach Österreich gelangte das aus Bosnien und Serbien stammende Gericht nämlich nicht während der Monarchie, sondern in den 1960er- und 70er-Jahren, und zwar im geistigen Gepäck sowohl der heimkehrenden Adria-Urlauber als auch der sogenannten Gastarbeiter, die man in den Zeiten des Wirtschaftswunders aus dem damaligen Jugoslawien ins Land holte. Was es für manche offenbar disqualifiziert, um als Teil der österreichischen Küche zu gelten.

Kulinarischer Schmelztiegel

Das bringt uns zum Wesen der Küche selbst. Die war und ist keineswegs etwas Museales, sondern etwas durch und durch Lebendiges, das sich durch Austausch, Handel, Reise und eben Migration nie aufhört zu bilden. Würde doch eine Küche, die ausschließlich auf (erfundene oder echte) Traditionen setzt, anstatt sich gemeinsam mit der Gesellschaft weiterzuentwickeln, zu reiner Folklore verkommen.

Heute ist die österreichische Gesellschaft, ist Niederösterreich und ist vor allem Wien noch weit multikultureller geprägt als zu Zeiten der böhmischen Zuwanderung während des Baus der Ringstraße im 19. oder des Wirtschaftswunders im 20. Jahrhundert. Die österreichische Hauptstadt kratzt inzwischen wieder an der Zwei-Millionen-Einwohner-Grenze, eine Zahl, die seit dem Kaiserreich nicht mehr erreicht wurde. Und die bekanntlich keiner besonders hohen Geburtenzahl, sondern vielmehr der Zuwanderung geschuldet ist.

Wer entscheidet, was Tradition ist?

Zu dieser kann man nun stehen, wie man will. Doch müssen sogar jene, die sie besonders fürchten und sich gerne als die Hüter einer ethnisch reinen österreichischen Identität und einer sogenannten Leitkultur aufspielen, einräumen, dass, was die heimische Küche betrifft, Zuwanderung gleichzusetzen ist mit Bereicherung. Denn genau das ist es ja, was sie selbst mit der multikulturell geprägten Küche der Habsburgerzeit verbinden und folglich subventionieren wollen. Dass sie unsere Küche gleichzeitig vor neuen Einflüssen zu bewahren trachten, ist somit nicht nur ein Widerspruch, sondern eine Absurdität.

Gleichzeitig passt es gut in eine Zeit, in der Beamte – und da geht es längst nicht mehr ausschließlich um rechtspopulistische Landespolitiker – sich anmaßen zu entscheiden, was heimisch, was "normal", was Tradition ist und was nicht.

Bezeichnend ist zudem, dass dieselbe Landesregierung, die sich um die Reinheit der Küche sorgt, auch die Reinheit der Sprache predigt – und Deutsch in Schulen bis in die Pausenhöfe verpflichtend machen will. Ein Vor­haben, das einem Grundgedanken entspringt, wie man ihn bislang nur von autoritären Regimen kennt. Und der sich der Tatsache verwehrt, dass sich auch die Sprache, genau wie die Küche, an neuen Einflüssen nur bereichert. Das hat schon Karl Kraus erkannt, als er meinte: "Nichts ist der Sprache gleichgültiger als das Material, aus dem sie schafft." Ganz genauso verhält es sich mit der Küche. (Georges Desrues, 2.3.2024)