Als ehemaliger Finanzminister und Ministerpräsident Sachsens weiß Georg Milbradt, was es bedeutet, ein vormals kommunistisches Gebiet zu modernisieren. Mit seiner Erfahrung unterstützt er die Ukraine seit zehn Jahren bei Reformen in der Verwaltung. Am Rande des Gipfels des Europäischen Ausschusses für Regionen im belgischen Mons sprach der Sonderbeauftragte der deutschen Bundesregierung mit dem STANDARD über Korruption, den Wiederaufbau und einen möglichen EU-Beitritt.

STANDARD: Menschen assoziieren die ukrainische Verwaltung häufig mit Korruption. Hat sich die Situation durch den Krieg weiter verschlechtert?

Milbradt: Mittlerweile gibt es ein eigenes Antikorruptionsgericht und eine eigene Antikorruptionsstaatsanwaltschaft, die außerhalb des normalen Justizsystems errichtet wurde. Das hat die Situation deutlich verbessert. Bei öffentlichen Auftragsvergaben gibt es durch eine Online-Plattform mehr Transparenz. Aber immer wieder kommt der alte Schlendrian durch, etwa bei der Beschaffung von Beatmungsgeräten in der Corona-Zeit.

STANDARD: Muss die EU ihre Hilfsgelder noch stärker an Reformvorhaben knüpfen?

Milbradt: Das passiert bereits ausreichend. Der Internationale Währungsfonds (IWF) stellt Bedingungen. Auch die EU macht das zunehmend. Ein Teil der Ukraine sieht die Situation als Chance. Ich habe Ähnliches in Polen und anderen Ländern erlebt, die durch EU-Beitrittsverhandlungen zu wichtigen Reformen gezwungen wurden, für die im eigenen Land die politische Kraft fehlte. Damals hat man gesagt: "Das fordert Brüssel, deshalb müssen wir es machen.2 Und jetzt ist man froh darüber.

Georg Milbradt, Ukraine, Sonderbeauftragter der deutschen Bundesregierung
Regionen, die derzeit als die "ärmsten" gelten, wären bei einem EU-Beitritt der Ukraine nur noch die "zweitärmsten". Langfristig würde das eine Neuverteilung der EU-Finanzmittel bedeuten, sagt Milbradt.
imago/Ukrinform

STANDARD: Sie haben kürzlich eine "Entoligarchisierung" der Ukraine gefordert. Was meinen Sie damit?

Milbradt: Aufgrund der Privatisierungen in den 1990er-Jahren kam die ehemalige sowjetische Elite zu viel Reichtum. Dabei blieb es aber nicht. Sie nahm Einfluss auf die Presse, indem sie Fernsehsender aufkaufte, und auf die Politik, aufgrund einer intransparenten Parteienfinanzierung. Das Ergebnis war Korruption. Die ukrainischen Oligarchen sollen meinetwegen ihre Villa in Kitzbühel behalten, aber wir müssen ihnen die politische und publizistische Macht nehmen.

STANDARD: Wie wäre das umsetzbar?

Milbradt: Beim politischen Einfluss würde eine Reform der Parteienfinanzierung helfen, bei den Medien haben wir eine spezielle Situationen. Mit dem Krieg hat man die Fernsehsender auf ein Einheitsprogramm umgestellt. Teilweise waren das prorussische Sender, aber es war natürlich auch die Opposition dabei. Der ehemalige Präsident Petro Poroschenko hatte zum Beispiel einen Kanal. Jetzt hat er seine Sichtbarkeit verloren.

STANDARD: War das kriegsbedingt notwendig oder hat man da eine Gelegenheit genutzt?

Milbradt: Ich halte das kriegsbedingt für vertretbar, aber für die Regierung war das sicher ein schöner Nebeneffekt. Wir müssen genau beobachten, was sich daraus entwickelt. Man könnte entweder ein privatwirtschaftliches System mit einer gewissen Pluralität etablieren oder ein öffentlich-rechtliches System nach dem Vorbild der BBC. Abseits der Medien könnte man überlegen, die Oligarchen nicht zu 100 Prozent für ihre Kriegsschäden zu entschädigen.

STANDARD: Also eine indirekte Art der Umverteilung?

Milbradt: Ja. Denkbar wären auch wirtschaftliche Entflechtungen, wie es sie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auf Druck der Amerikaner gegeben hat. Die Chemiegruppe I.G. Farben wurde etwa wieder in eigenständige Unternehmen wie BASF und Bayer aufgeteilt. Durch eine Entflechtung könnte man die Monopolstellung von Oligarchen aufbrechen, ohne sie zu enteignen. Aber das ist ein Thema für die Zeit nach dem Krieg.

STANDARD: Die Zeit nach dem Krieg, wann beginnt die eigentlich? Möglicherweise gibt es einen jahrelangen eingefrorenen Konflikt, und es kommt immer wieder zu Angriffen.

Milbradt: Es muss zumindest einen gesicherten Frieden geben, sonst gibt es auch keinen Wiederaufbau. Abgesehen von Spekulanten werden keine privaten Investoren ins Land kommen, wenn sie Gefahr laufen, ihre Investitionen im Krieg zu verlieren. Es muss stabile wirtschaftliche Verhältnisse geben, Wohnungen, Jobs und Infrastruktur.

Wiederaufbau in der Ukraine, ein zerstörtes Haus in Kharkiv
Die EU-Kommission will den Wiederaufbau über die sogenannte Ukraine-Fazilität in den Jahren 2024–2027 mit bis zu 50 Milliarden Euro unterstützen.
IMAGO/Vyacheslav Madiyevskyi

STANDARD: Hier beim Regionalgipfel in Mons wird viel über die EU-Kohäsionspolitik gesprochen, die finanzielle Förderung ärmerer Regionen. Wäre das aktuelle System bei einem Beitritt der Ukraine aufrechtzuerhalten?

Milbradt: Nein, dafür ist die Ukraine zu groß, man müsste das System umstellen. Das fängt schon bei der Landwirtschaft an. Die Ukraine hat eine derart große und wettbewerbsfähige Landwirtschaft, dass sie für andere europäische Länder ein Problem darstellt. Die Blockaden durch polnische Bauern an der Grenze zur Ukraine sind da nur erste Wetterleuchten. Dazu kommt, dass die Ukraine ein Niedriglohnland ist und Betriebe dorthin abwandern könnten.

STANDARD: Würde die Ukraine den europäischen Fördertopf aufsaugen?

Milbradt: Tritt die Ukraine bei, sinkt der EU-Schnitt bei Einkommen und Wirtschaftsleistung. Regionen, die derzeit als die "ärmsten" gelten, wären nur noch die "zweitärmsten". Langfristig würde es eine Neuverteilung der Fördermittel geben – so wie das auch beim Beitritt der Osteuropäer der Fall war. Wenn die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine ernst genommen werden, würde das auch für die EU eine Reform bedeuten.

STANDARD: Kann es sein, dass die Stimmung der Osteuropäer umschwenkt?

Milbradt: Ja, das ist möglich, und nicht nur in Osteuropa. Wenn ich an die Landwirtschaft denke, könnte es auch in Frankreich oder Deutschland Proteste geben. In meiner Zeit als Ministerpräsident in Sachsen haben wir ähnliche Erfahrungen gemacht. Als ehemaliges DDR-Land bekamen wir Fördermittel. Als Polen beigetreten ist, wurde es schnell weniger. (lacht)

STANDARD: Sie haben die Ukraine in den letzten Jahren bei einer Dezentralisierung der Verwaltung unterstützt. Warum war das für die Ukraine so wichtig?

Milbradt: Das Land hatte aufgrund der Zaren- und Sowjetzeit eine stark zentralisierte Struktur. Bis 2014 wurden die Baugenehmigungen bis ins kleinste Dorf in Kiew erteilt. Das ist unsinnig und führte dazu, dass es keine Identifikation mit dem Staat gab. Nach der Revolution hat man deshalb eine neue kommunale Struktur entwickelt und Gemeinden die Selbstverwaltung gegeben. Das muss aber noch verfassungsrechtlich abgesichert werden.

STANDARD: Der Krieg ist dazwischengekommen?

Milbradt: Im Krieg hat sich die neue Struktur bereits als Vorteil erwiesen, weil sich die Menschen direkt an ihre lokalen Bürgermeister wenden konnten. Es gibt durch die Militäradministration allerdings eine Rezentralisierung. Jetzt muss man aufpassen, dass die zarten Pflänzchen dieser Reform weiter wachsen.

STANDARD: Könnte der Krieg zu einem nachhaltigen Rückschritt der Dezentralisierung führen?

Milbradt: Es gibt Dinge, die von den ukrainischen Bürgermeistern kritisiert werden. Natürlich hat man den Gemeinden Geld weggenommen für das Verteidigungsbudget. Das ist zwar bedauerlich, aber ich habe Verständnis dafür in einer solchen Situation. Es kommt jetzt darauf an, wie die Reform nach dem Krieg weiterläuft. Der Wiederaufbau muss dezentral organisiert werden. Wichtig ist, dass die internationalen Gelder bei den Gemeinden ankommen.

STANDARD: Wie können österreichische Gemeinden ukrainischen beim Wiederaufbau helfen?

Milbradt: Geld ist nicht alles, die ukrainischen Gemeinden brauchen auch Unterstützung durch Experten, zum Beispiel bei der Stadtplanung. Dabei können Städtepartnerschaften helfen. Wichtig ist, dass den EU-Gemeinden der Aufwand dafür von den jeweiligen Zentralregierungen ersetzt wird. Andernfalls wird es schwieriger, die eigene Gemeinde von einer Partnerschaft zu überzeugen. (Jakob Pflügl, 21.03.2024)