Fotomontage von zwei Händen, die eine verwickelte Schnur halten
Führungskräfte mit ADHS können mitunter desorganisiert sein, aber auch sehr kreativ.
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Es sind die Excel-Tabellen, die sie auffüllen muss und die sie in den Wahnsinn treiben. Und häufig sei sie auch zu ehrlich in unpassenden Situationen. Das erzählt Sandra Elgaß im Podcast Human Place über ihre Erfahrung als Führungskraft mit ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Sie ist Teamleiterin in einer Medienagentur und habe sich im Job mit der Diagnose geoutet. Denn sie wolle auch ihre Stärken betonen: sich unheimlich für Themen begeistern und innovativ denken können. "Ich habe einen breiten Fokus und kann Dinge sehen, die andere vielleicht nicht sehen", sagt Elgaß im Podcast. Ähnlich wie ihr geht es zahlreichen anderen Menschen im Job, auch in Führungspositionen.

Rund 15 Prozent der Menschen in Österreich sind im neurodivergenten Spektrum. Konkret bedeutet das, sie haben ADHS, Autismus oder Legasthenie, aber auch Diskalkulie und Tourette-Syndrom fallen unter den Sammelbegriff Neurodivergenz. Betroffene haben, wie das Wort bereits verrät, Abweichungen im Kopf. Ihre Gehirnfunktionen weichen von der Norm ab – jede Form auf die eine oder andere Weise.

ADHS äußert sich häufig durch Impulsivität, Unorganisiertheit, sprunghaftes Denken oder innere Unruhe. Autistinnen und Autisten hingegen sind oft auf spezielle Themen sehr fokussiert, haben Schwierigkeiten mit kleinen Veränderungen oder Probleme, die Gefühle anderer Menschen einzuordnen.

Anders verstehen

Im Job ist es mit einer Neurodivergenz oft nicht leicht. Fehlendes Zeitmanagement und Schwierigkeiten, Aufgaben abzuschließen, können belasten. Auch die Art und Weise, wie man Aufgaben versteht oder kommuniziert, kann zu Konflikten führen. Trotzdem gibt es zahlreiche Personen im Spektrum, die in einem Unternehmen oder Start-up die volle Verantwortung als Führungskraft tragen. Eine Rolle, die ja meist ein hohes Maß an Strukturiertheit, Kommunikationsstärke sowie eine Menge Selbstvertrauen fordert.

"Definitiv nicht selten gibt es Personen in Führungspositionen, die eine Neurodivergenz haben", sagt Anna Marton. Sie leitet die Jobvermittlung für neurodivergente Personen Amazing 15 in Wien und ist selbst dreifache Gründerin mit ADHS.

Etwa die Hälfte der neurodivergenten Menschen seien erfolgreich im Berufsleben, vor allem unter Start-up-Entrepreneurinnen, aber auch Selfmade-Millionären seien ADHS und Autismus stark vertreten. Betroffenen Führungskräften können, je nach Ausprägung im Autismus-Spektrum, eine hohe Lösungskompetenz zugutekommen sowie analytisches und logisches Denkvermögen, aber auch Detailverliebtheit.

Annehmen, durchziehen

Sie würden sich besonders dem Ergebnisziel gut verschreiben können. "Das braucht es zum Beispiel in der Juristerei, im Qualitätsmanagement oder auch bei Restrukturierungen in Unternehmen", sagt Marton. Führungskräfte mit ADHS würden häufig auch unangenehme Dinge durchziehen, wenn sie ein Ziel als profitabel erachten. Doch zu viel an Begeisterung und "Reinfuchsen" kann dabei auch schnell im Ausgebranntsein enden.

Das weiß auch Martin Eisner, der lange Zeit ein Sozialzentrum inklusive Pflegeheim und Krankenhaus geleitet hat – mit ADHS. "Ich konnte sehr viele Ideen einbringen und mit meinen Mitarbeitenden teilen, was toll war", erzählt er. "Trotzdem kam ich oft zu spät zu Terminen, musste Ausreden erfinden und mich verstellen." Gleichzeitig hatte er das Gefühl, er müsse jede Aufgabe perfekt machen. "Weil man schon oft im Leben gehört hat, dass man etwas nicht kann, will man irgendwann alle zufriedenstellen." Seine Symptome verschlimmerten sich, als er private Probleme bekam, sagt Eisner. Er machte mehr und mehr Fehler bei der Arbeit und verlor irgendwann die Stelle.

Das habe ihm zwar den Boden unter den Füßen weggerissen, aber trotzdem sei es irgendwie auch die ADHS gewesen, die ihm wieder eine Richtung gegeben habe: "Wir geben auf und machen trotzdem weiter, weil sich immer etwas ins uns bewegt." Heute ist Eisner mit dem Unternehmen 8ung in Wien selbstständig, wo er andere Personen mit ADHS coacht.

Anders kommunizieren

Auch Christian Lindenthal, Anna Martons Geschäftspartner, berichtet von seinen Erfahrungen als Führungskraft im Spektrum. Nun hat er bei Amazing 15 die Personalverantwortung und ist ebenfalls Geschäftsführer. Zuvor war er mehr als zwanzig Jahre Führungskraft im Einkauf bei Konzernen. Er ist 52 und hat erst seit einiger Zeit eine Verdachtsdiagnose für das autistische Spektrum. Gerade durchläuft er eine umfassende Diagnosestellung.

Ihm sei wichtig, sich damit selbst anzunehmen und besser zu verstehen. "Aufgrund des Bewusstseins dafür kann ich daran arbeiten, besser zu kommunizieren", sagt Lindenthal. Es mache etwas mit der Führung, wenn er weiß, dass er sich als Chef präziser und direkter ausdrücken müsse. Vor allem auch, mehr nachzufragen bei Dingen, die er eigentlich für selbstverständlich halte.

Nicht alle Führungskräfte mit Neurodivergenz trauen sich mit der Diagnose an die Öffentlichkeit. Das habe verschiedene Gründe, sagt Anna Marton: In der Gesellschaft gebe es immer noch ein Tabu bezüglich ADHS und Autismus, häufig würden die Diagnosen auch unter Betroffenen noch als Krankheit wahrgenommen.

Dabei, betont sie, könne die Anerkennung der eigenen Art und Weise das ganze Team weiterentwickeln. "Wer ein Gehirn wie ein Rennauto hat, das mit einer Fahrradbremse ausgestattet ist, wird zwangsläufig Experte in Selbstführung", sagt Marton. Und wenn Chefinnen und Chefs das können, dann würden sie auch ihre Teams in deren Potenzialen besser stärken. (Melanie Raidl, 2.4.2024)