Eine junge Frau steht auf einer Holzterrasse und lacht
Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst und anderen bewahrt vor Schlimmem.
imago images/Bernd Friedel

STANDARD: Herr Kriz, ist der von Ihnen benannte Mangel an Achtsamkeit ein Befund oder eine Schuldzuweisung?

Kriz: Weder noch! Es ist einfach eine Beschreibung dessen, was viele Menschen erleben und beklagen. Tatsache ist, sowohl im Umgang mit sich selbst als auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen fehlt es an Achtsamkeit. Intrapersonell spielt diese Tatsache bei der Zunahme psycho-mentaler beziehungsweise psychosomatisch basierter Erkrankungen eine erhebliche Rolle. Die Bedeutung der Achtsamkeit für eigene innere Vorgänge wird inzwischen in der Fachliteratur breit diskutiert. Nicht minder wichtig wäre auch mehr Achtsamkeit in den interpersonellen und gesellschaftlichen Prozessen. Viele der uns beeinträchtigenden Wirkungen aus den sozialen Strukturen, die uns in ihrem Ursprung ebenso unbewusst sind wie etliches von dem, was uns innerlich umtreibt und krank macht, sind auf diesen Mangel mit zurückzuführen. Ich verweise beispielsweise auf die sich häufenden Zusammenstöße, wenn jemand einen vermeintlich falschen Ton anschlägt, sich erlaubt, eine andere Ansicht zu haben oder anders aufzutreten. Und darauf, dass solche Zusammenstöße nicht nur verbal, sondern auch physisch zunehmen.

STANDARD: Heißt das in der Schlussfolgerung, es fehlt im Umgang mit der eigenen Person wie mit anderen an Überlegung?

Kriz: Das steht außer Frage. In persönlicher wie gesellschaftlich Hinsicht fehlt es eindeutig an Überlegung. Und an der Besinnung darauf, dass jeder von uns nicht nur eine Verantwortung für das eigene, sondern auch für das Wohlergehen seiner Mitmenschen hat. Soll diese Verantwortung aber praktisch wirksam werden, dann müssen die inneren und äußeren Wirk- beziehungsweise Triebkräfte des Verhaltens erst einmal durchschaut werden. "Mehr Überlegung" bedeutet demzufolge eine weniger voreilige, vorschnell urteilende, deutlich entschleunigte und daraus folgend achtsamere Verwendung unserer geistigen Fähigkeiten im Sinne von "Erst denken, dann reden". Nach Lage der Dinge wäre das rundherum hilfreich und würde sich persönlich wie gesellschaftlich segensreich auswirken.

STANDARD: Inwiefern?

Jürgen Kriz im Portrait
Jürgen Kriz will aus der dauerhaften Alarmstimmung heraushelfen.
Jürgen Kriz

Kriz: Weil sich aus therapeutischer Sicht das private wie das öffentliche Leben heute in einer ständigen Alarmstimmung abspielt, die der Tatsache geschuldet ist, dass die Aufmerksamkeit primär medial gehypten Ereignissen folgt, und die, das muss beklagt werden, leider oft auch interessengeleitet hervorgerufen und am Leben erhalten wird. Diese permanente innere Erregung aber ist der gefährlichste Gegenspieler jedweder ruhigen ab- und ausgewogenen Überlegung. Dadurch, dass sie den Blick auf die äußeren Ereignisse und Strukturen verzerrt, verhindert sie eine sorgfältige innere und äußere Auseinandersetzung damit und Stellungnahme dazu. Beides kommt zu unser aller Nachteil, ich verweise wieder auf die gesundheitlichen Folgen, zu kurz. Ruhige Überlegung ist nun einmal die Voraussetzung für bedachteres, achtsameres, sich selbst und andere schonendes und das gesellschaftliche Klima entspannendes Verhalten. Weil es daran fehlt, nimmt das Belastende in unserer Zeit so zu. Aus therapeutischer Sicht wäre es also geboten, sich dieser Wirkungszusammenhänge bewusst zu werden und deren Erkennen zu fördern.

STANDARD: Mit Therapeutenhilfe?

Kriz: Warum nicht? Macht es doch die gesellschaftliche Aufgeregtheit und Betriebsamkeit, die das vorschnelle Urteilen und Bewerten begünstigt und das achtsame und wertschätzende Verhalten im Umgang mit der eigenen Person wie mit anderen hintertreibt, schwer bis unmöglich, sich der zu entziehen. Interessanterweise bekommen wir alle doch tagtäglich direkt oder indirekt Rückmeldung von außen auf unser Verhalten, im Beruf, in der Familie, im Freundeskreis. Wie gehen wir mit diesen Rückmeldungen um? Werden sie abgewehrt, als gemein, gehässig oder auch als mangelnde Bereitschaft eingestuft, die eigene Person in ihrem Sosein zu akzeptieren? Oder aber als Anstöße, die Sicht auf sich selbst und damit den eigenen Verhaltensauftritt zu hinterfragen? Sich selbst in den Fokus zu nehmen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen heißt, sich zu fragen: Welchen inneren und äußeren Kräften bin ich ausgesetzt? Wir wirken die auf mich ein, und was bewirken die dadurch? Was ist mir wirklich wichtig?

STANDARD: Mit therapeutischer Hilfe wird es leichter, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen?

Kriz: Worauf kommt es denn an? Was soll denn bewirkt werden? Sich der erwähnten permanenten inneren Alarmstimmung zu entziehen, innerlich zur Ruhe zu kommen. Die drei Verhaltensweisen mit herausragendem Einfluss auf diese Ruhe und damit das Wohlbefinden sind Bedachtsamkeit, Wertschätzung und Nachsicht – nach innen und nach außen. Sie in sich zu fördern ist kein leichtes Unterfangen. Diese Eigenschaften hängen eng zusammen. Bedachtsamkeit – also die Achtsamkeit für innerlich und äußerlich Wesentliches – ist stets verbunden mit Wertschätzung. Wer sich selbst wertschätzt, kann sich selbst gegenüber auch mal Nachsicht aufbringen, kann auch anderen mit Nachsicht begegnen. Das tut gut, entspannt – und entspannte Menschen wirken entspannend auf andere.

STANDARD: Wer das erkennt, entwickelt und pflegt, nimmt sich eine große Bürde von den Schultern?

Kriz: Macht es der gesundheitliche Zustand vieler nicht deutlich, dass es eine große Bürde ist, sich unreflektiert von den Ereignissen des Alltags treiben zu lassen und von ihnen getrieben zu werden? Der Beruf beziehungsweise die Berufsausübung gilt heute als Hauptbelastungsquelle im Leben. Dafür lassen sich je nach Betrachtungsweise gute Gründe anführen. Mit Sicherheit aber ist einer davon die mangelnde Wertschätzung sich selbst wie anderen gegenüber, das unachtsame, zu wenig bedachte, zu wenig nachsichtige Umgangsverhalten untereinander in Führung und Kollegialität. Mehr wertschätzendes, mehr bedachtes, etwas nachsichtigeres Verhalten führt zu anderen Lebensumständen am Arbeitsplatz, bewirkt einen generell veränderten Lebensvollzug. Das wusste schon Goethe: "Willst du glücklich sein im Leben, trage bei zu anderer Glück, denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigene Herz zurück." Sehen wir also in Achtsamkeit, Wertschätzung und Nachsicht die großen Freudenbringer im Alltag. (Hartmut Volk, 23.5.2024)