Im Gastkommentar bringt die Ärztin Susanne Rabady Argumente für eine hausarztzentrierte Versorgung.

Das österreichische Gesundheitssystem droht zu kippen. Wir haben – eigentlich – ausreichend viele Ärztinnen und Ärzte, exzellente Spezialistinnen und Spezialisten, hervorragende Einrichtungen und ein öffentlich-solidarisches System, auf das wir zu Recht stolz sind. Das Kassensystem sichert seine Vertragsärzte so weit ab, dass sie sich nach bestem fachlichem Wissen um das Wohl ihrer Patientinnen und Patienten kümmern können, ohne sich allzu sehr von wirtschaftlichen Überlegungen leiten lassen zu müssen. Durch Selbstständigkeit und Freiberuflichkeit bleibt der Leistungsanreiz erhalten.

Ein solches System funktioniert auf Dauer aber nur, wenn es auf einer soliden Basis aufbaut, die die Inanspruchnahme in sinnvolle Bahnen lenkt: nämlich auf eine kompetente, gut ausgestattete primärversorgende, Patienten führende und betreuende Ebene.

Überlastetes System

Wir haben viel zu wenige Ärzte im öffentlichen System, und immer weniger in der Primärversorgung, also einen bereits eklatanten Hausärztemangel. Die Zahl der Wahlärzte hat sich seit 1999 fast vervierfacht, die Gesamtzahl der Ärzte ist seit den 60er-Jahren ebenfalls um das Vierfache angestiegen – die Zahl der Kassenärzte ist hingegen gleich geblieben. Das gilt für Spezialisten und Hausärzte gleichermaßen. Und das bei einem Bevölkerungswachstum von 25 Prozent und einer umfassenden Veränderung von Demografie und Krankheitsspektrum: Chronische Krankheit und Multimorbidität spielen eine weitaus größere Rolle als damals. Sie machen in der primären Gesundheitsversorgung bereits etwa 30 Prozent der Fälle aus, mit steigender Tendenz. Und sie brauchen Zeit und Energie.

Bis zur Diagnose werden von Patienten oft viele Spezialisten aufgesucht – oft nach dem Zufallsprinzip.
Foto: imago/Panthermedia

Gleichzeitig leben wir mit einem Anachronismus. Jeder Patient kann sich die Ebene aussuchen, die er in Anspruch nimmt. Das klingt aber nur vordergründig nach Freiheit. Die Zuordnung von Krankheitssymptomen gehört zum Schwierigsten, was die Medizin zu bieten hat: Ein und dasselbe Symptom kann seine Ursache in mehreren medizinischen Fachgebieten haben. Der Patient bleibt mit der Entscheidung alleine, welcher Spezialist nun der Richtige sein könnte. Der "Erfolg" dieses Systems ist die Verstopfung der spezialisierten Ebenen: Bis zur Diagnose werden oft mehrere Spezialisten aufgesucht, mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip. Jeder dieser Spezialisten wird das Instrumentarium seiner Profession einsetzen, bis sich herausstellt, dass die vorgebrachte Problematik doch nicht in sein Gebiet fällt. Bis zur korrekten Zuordnung fallen an: Kosten für Untersuchungen, Zufallsdiagnosen ohne Relevanz für die Gesundheit des Patienten (im ungünstigeren Fall: zum Nachteil des Patienten), Zeitverlust für Patienten und Ärzte. Das Ergebnis ist außerdem: eine erhebliche Terminnot auf fast allen spezialisierten Ebenen.

Wir haben also nicht nur ohnehin schon zu wenige Ärzte im öffentlich-solidarischen System. Wir haben auch noch viel zu viele Patienten an der falschen Stelle und fügen der Überlastung durch Mangel auch noch eine durch Fehlsteuerung hinzu.

Keine Wahlfreiheit

Die Terminnot führt dazu, dass ausgerechnet diejenigen Patienten, die wirklich und dringend den Spezialisten brauchen, keinen Termin beim Kassenarzt bekommen und zum Wahlarzt ausweichen müssen, wobei dann von einer "Wahl" keine Rede mehr sein kann. Das kann nicht jeder, und vor allem die Schwächsten können es nicht. Mit deren Freiheit ist es hier zu Ende.

Patienten haben einen immer stärkeren Hang, gleich zum Spezialisten zu gehen statt zum Hausarzt, also zum Generalisten. Sie vermuten dort die höhere Kompetenz oder, wie es einer meiner Patienten kürzlich ausgedrückt hat: weil man halt besser "gleich zum Schmied geht statt zum Schmiedl". Dass Patienten oft nicht klar ist, dass der Schmied in vielen Fällen der Allgemein- und Familienarzt ist und nicht der hochspezialisierte Kollege, ist nachvollziehbar. Dass es auf der gesundheitspolitischen Ebene unklar ist, ist schwer verständlich.

Generalisten notwendig

Die Zuordnung mehrdeutiger Symptome – und das ist mehrheitlich der Fall, vom Schwindel über Kopf-, Bauch- und "Herz"-Schmerz bis zu Atemnot, geschwollenen Beinen und roten Punkterln auf der Haut – ist Sache des Generalisten, denn dieser geht ganz anders vor als der Spezialist: Aufgrund der Kenntnis der gesamten Bandbreite der Medizin, kombiniert mit der Kenntnis von Vorgeschichte und Umfeld des Patienten, seiner Wünsche, Vorstellungen und Ängste, ist eine Zuordnung der Symptome leichter, schneller und gezielter möglich und damit auch die Behandlung – beziehungsweise die Veranlassung einer weiteren Abklärung an der richtigen Stelle.

Auch Patienten mit mehreren Krankheiten brauchen den Generalisten, und die meisten chronisch Kranken sind multimorbid, oder sie werden es. Multimorbidität erfordert die Zusammenschau, das Zusammenfügen der Krankheiten und deren Behandlungsstrategien, sie erfordert in besonderem Maße den Blick auf den Menschen in seiner Ganzheit, seiner Individualität und Integrität.

Selbstverständlich brauchen Generalisten auch die entsprechenden Voraussetzungen dafür: genügend Zeit, erreichbare Kooperationspartner von Krankenpflege bis zur Spezialambulanz, angemessene Honorierung wie Ausbildung. Und das angemessene Berufsbild und Selbstverständnis – da ist noch einiges zu tun!

Hausarztzentriertes System

Patienten und Gesundheitssystem profitieren davon, wenn jeder in Gesundheitsberufen Tätige das tun kann, was seine Aufgabe ist. Die Evaluierung der "hausarztzentrierten Versorgung" in Deutschland lässt daran so wenig Zweifel wie eine Vielzahl weiterer einschlägiger Untersuchungen.

Diese Versorgungsalternative sieht die freiwillige, durch diverse Vergünstigungen (Beitragsreduktion) unterstützte Einschreibung in einer allgemein- und familienmedizinischen Praxis vor, also ein Bekenntnis zur primären Versorgungsebene. Diese Praxis wird durch ein angemesseneres Honorierungssystem gefördert, das zum Beispiel die Betreuung chronisch Kranker und die Erweiterung des Angebots durch Gesundheitsberufe erleichtert.

Die Ergebnisse sind gut: Patienten, Ärzte und Versicherungsträger sind zufrieden, Morbidität und Mortalität sinken, ebenso die Kosten. Und: Für diese Praxen finden sich leichter Nachfolger. Es ist nur ein Schritt von vielen wichtigen Schritten – aber ein vergleichsweise unkomplizierter und effizienter. (Susanne Rabady, 7.8.2019)