Im Café Caramel in Wien Mitte herrschen fixe Regeln. Die kennt man einfach, ohne dass sie auf einem Schild festgeschrieben oder sonst wie explizit formuliert werden müssten.

Da wäre zum Beispiel die Sitzordnung. An der halbrunden Bar in der Mitte des Raums etwa, gegenüber von verspiegelten Regalen, in denen Bier- und Weingläser sauber nebeneinander aufgereiht stehen, da sitzen immer die Stammgäste. Sie ordern eine Runde Schnaps nach der anderen und diskutieren dabei über Politik und Gesellschaft, reden auch einmal in aller Ruhe Blödsinn.

Unausgesprochen ist klar, wer die nächste Runde zahlt, wem die Kellnerin das volle Glas nachschiebt. So wie es sich in einem echten Tschocherl oder einer Tschumsn, wie die Wiener derlei Lokale liebevoll nennen, eben gehört. Sie sind ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, ehe Brotboutiquen, Biosupermärkte und Coffeeshops das Straßenbild prägten.

Die Bartheke weiter in Richtung des großen Fensters, vor dem die Linie O die Invalidenstraße hinunter durch die Nacht brettert, dort ist der Platz der Einzelgänger und Einsamen mit ihrem Rotwein, die ab und zu in die Runde oder hoch zum Fernseher schauen.

Mario zählt quasi zum Inventar des Caramel.
Foto: Christian Fischer

Vernebelte Luft

An den Tischen ringsherum, wo ein langes Kissen in Form kleiner, aneinandergereihter Kätzchen davor schützt, dass der Wind durch die Fensterritzen hereinzieht, hocken Paare beim Rendezvous und kleine Gruppen, die nach der Arbeit noch einen heben. Manche wärmen sich hier auch noch kurz auf, bevor die nächste S-Bahn vom Bahnhof Wien Mitte abfährt. Vielleicht zwei Dutzend Leute haben auf den rissigen, rot gepolsterten Bänken und an den abgeschabten Tischplatten Platz. Egal in welcher Ecke des Caramel die Gäste sitzen: Die Luft ist vernebelt, die meisten rauchen, wie es sich im Tschocherl eben gehört.

So war es zumindest bis zum 1. November, jenem Tag, an dem in Österreich das Rauchverbot in der Gastronomie in Kraft trat – ohne Ausnahmen und für alle Gastronomie-Betriebe, egal wie klein oder urig sie sind. Und damit an jenem Tag, an dem das Café Caramel zwar irgendwie gleich bleibt – und trotzdem auf gewisse Weise auch anders wird.

Schleichende Veränderung

Wie eine Veränderung vonstatten geht, kann unterschiedlich ausfallen. Sie kann schlagartig geschehen, sie kann sich anschleichen und dauern. Oder sie kann so unmerklich sein, dass niemandem auffällt: Hier ist etwas anders.

Ob und wie sich ein Wiener Tschocherl wie das Caramel durch das Rauchverbot verändert, sieht man erst, wenn man es über Wochen hinweg besucht.

Bei Besuchen im Oktober, in der Zeit vor dem Tschickverbot, herrscht hier noch Regelbetrieb. Es ist ein bisschen schummrig im Gastraum, der Geruch nach Tabak, frischem und kaltem Rauch mischt sich mit dem des Klosprays. Weder das eine noch das andere stört.

90 Prozent der Gäste hier seien Raucher, sagt Kellnerin Ioana, während sie einen grauen Plastikkorb voll dampfender Gläser aus dem Geschirrspüler holt. Da wäre zum Beispiel Mario. Er zählt quasi zum Inventar des Caramel, mit seiner Packung Chesterfield, dem immer vollen Almdudler-Aschenbecher und dem Spritzer vor sich. Das erste Mal im Caramel war Mario Mitte der Achtziger, zum "Schulstangeln". Zwischenzeitlich wurde er seinem Stammtschocherl zwar untreu, aber seit 14 Jahren kommt er wieder regelmäßig – genauso wie der Griff zur Zigarette über die Jahrzehnte zur ständigen Gewohnheit wurde. "In Wirklichkeit hat sich hier seit den Achtzigern nicht viel verändert", sagt er, "die Leute sind immer die gleichen. Raucher, Nichtraucher, Burschen und Anwälte, Junge und Alte, Dicke und Dünne."

"Ich geh’ sicher nicht extra raus, wenn man nicht mehr drin rauchen darf", sagt Joanna noch im Oktober.
Foto: Christian Fischer

Gäste, die zu Hause bleiben

Wenn es nur Kleinigkeiten sind, die sich verändern, dann muss man schon sehr genau hinschauen. Nur wenige Gäste haben zum Beispiel den grünen Tresen draußen vor der Eingangstür bemerkt, der schon vor dem Rauchverbot an die Wand gezimmert wurde. In wenigen Wochen wird hier draußen der Aschenbecher stehen, nicht mehr wie bislang an der abgewetzten Bar. "Ich geh’ sicher nicht extra raus, wenn man nicht mehr drin rauchen darf", poltert Joanna mit Blick auf den angenagelten Outdoor-Tresen. Sie ist eine kleine, schmale Frau, die manchmal wie ein unbeschwertes Kind kichert und dann wieder nachdenklich den Kopf in die Hand mit den goldenen Ringen stützt, zwischen den Fingern meist eine Pall Mall. Ab November geht sie nicht mehr ins Caramel, davon ist sie überzeugt. Wie denn das gehen solle, wenn man dauernd aufstehen müsse!

"Wenn der Adi was erzählt, während ich draußen bin", sagt Joanna, "und dann komm ich wieder rein, und er ist schon fertig, dann muss er ja alles noch einmal erzählen." Adi, ein kleiner, älterer Herr, ist der Schmähführer im Caramel, die anderen warten nur auf sein nächstes Bonmot.

Eine Markise für die Raucher

Jene Frau, von der man im Caramel nur als "die Chefin" spricht, führt die Geschäfte zwar nicht auf dem Papier, aber sie hat den Überblick über alles, was im Lokal passiert. Am Telefon erzählt sie von ihren Bedenken, von schlaflosen Nächten, als klar wurde, dass das Rauchverbot nun tatsächlich in Kraft treten wird. Seit 36 Jahren schon gebe es das Lokal. Es soll bleiben, wie es ist: "Ich hab mich damals bewusst für ein Raucherlokal entschieden, das war auch gut so." Das war 2009, als sich Betreiber von Lokalen mit maximal 50 Quadratmetern aussuchen konnten, ob man darin rauchen darf oder nicht. Also zog sie hinten eine Wand ein. Gerade so, dass man noch zu den Klos kommt, aber die Gäste weiterrauchen können.

Ab November will sie eine Markise an das Lokal anbauen, damit sich die Raucher wenigstens unterstellen können, wenn es regnet. Falls das nicht hilft, dann müsse sie vielleicht Kuchen anbieten, um Gäste zu halten, überlegt sie. Jetzt gibt es in der Früh Semmeln, Marmelade oder Butter um je 80 Cent, am Abend den Spezialtoast mit Ketchup um 3,50 Euro. Aber eigentlich, sagt die Chefin, wolle sie gar nichts verändern, "sondern diese Art von Lokal genau so erhalten." Ein Lokal, in das man zum Trinken und Tratschen kommt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

27 Jahre lang wurde über das Rauchverbot in der Gastronomie und damit über das Schicksal von Tschocherln wie dem Caramel diskutiert, wurden Gesetze und Ausnahmen beschlossen und wieder zurückgenommen, Gasthäuser umgebaut, neue Mehrheiten gefunden und verloren. Nach der Regierungskrise kippte die ÖVP die parlamentarische Mehrheit Richtung endgültiges und absolutes Rauchverbot. Trotz Beschwerden am Verfassungsgerichtshof trat es ohne Ausnahme für alle Gastronomiebetriebe in Kraft, Punkt Mitternacht an Halloween.

Im Oktober gehörte Rauchen noch zur Beschäftigung Nummer eins im Caramel.
Foto: Christian Fischer

Umbau und Vergrößerung

Im Caramel war die Nacht auf den ersten November eine aufregende, aber nur deshalb, weil Kellnerin Ioana ihren Polterabend feierte. Als alle Zigaretten im Land ausgedrückt wurden, herrschte hier schon seit zwei Stunden Sperrstunde. Noch am ersten Wochenende nach dem Rauchverbot wurden 726 Lokale kontrolliert und drei Verstöße angezeigt. Im Caramel hat die Truppe aus dem Marktamt nicht vorbeigeschaut.

Am ersten Montag nach dem Rauchverbot zeigt sich bereits am Eingang zum Caramel, dass doch etwas anders ist. Schmähführer Adi steht draußen an der grünen Theke. Davor war er einer, der nicht oft aufgestanden ist, während andere Gäste den Platz wechselten, schon einmal ein kurzes Tänzchen zwischen den Tischen hinlegten. Adi saß dann lieber da, mit gebücktem Rücken und breitem Grinsen im Gesicht. Nun stützt er den Arm auf der glatten Tresenfläche vor der Tür ab, den Schal um den Hals gelegt, und zieht wortlos an seinem Tschick.

Im Lokal selbst ist auf einmal mehr Platz. Weil nämlich die holzvertäfelte Wand herausgerissen wurde, die das Caramel 2009 auf 50 Quadratmeter verkleinert hat, und weil dort, wo früher eine Abstellfläche war, nun weitere Tische und Bänke stehen. Sie sind mit grünem Stoff überzogen, auch die Wand ist frisch getüncht.

Manches hingegen ist gleich geblieben. Stammgast Mario sitzt an der Bar, den Spritzer vor sich. Er ist das erste Mal seit dem Rauchverbot im Caramel, und geraucht hat er noch keine in der Zeit, die er heute schon da ist. Gefehlt hat ihm das bis jetzt nicht. Er ist pragmatisch und sagt Sätze wie: "Ich kann’s nicht ändern, Ende Gelände", oder "Es kann ja nicht immer alles gleich bleiben, sonst tät ma uns ja nicht bewegen." Vielleicht sei es nun anders im Caramel, klar, aber auch nicht schlechter, findet er.

Montag, Mittwoch und Freitag waren zuvor die vollen Tage im Lokal. Heute sei nicht viel los, nur drei Stammgäste seien da, sagt Mario mit Blick in die Runde. Nebenan erzählt Karin, die zweite Kellnerin, an der Zapfanlage einem Gast, dass die Stammgäste jetzt nur noch ein Bier statt fünf trinken würden. "Gläser bleiben hier!", ruft sie einem Raucher auf dem Weg nach draußen nach.

Der Mann neben Mario (er will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, eigentlich ist er gerade im Krankenstand) hat ein überschwänglicheres Naturell. "Ich liebe es", sagt er und meint damit das Rauchverbot. Er liebt vieles, das Wort nimmt er schnell in den Mund. Aber mit dem Rauchen ist es ihm ernst. "Früher hab ich in fünf Stunden eine Packung geraucht, wenn ich fort war, und gestern nur acht Zigaretten!" So dagegen sei er erst gewesen, sagt er, ja, gefürchtet habe er sich. Aber diese klare Luft jetzt, von der die Augen nicht zu brennen beginnen, die sei was wert. Ihre Zigarettenschachteln lassen beide Männer in der Jackentasche. Warum es sich schwerer machen, als es ist?

Hat sich damals bewusst für ein Raucherlokal entschieden: Ioana (ganz links). Neben ihr: Mario, Joanna, Adi, Hannes.
Foto: Christian Fischer

Wenn Heimat Heimat bleibt

Das Caramel ist ein Ort, an dem Frauen "a Liabe" genannt werden, an dem Schlagzeilen aus der Kronen Zeitung zitiert werden, wo man beim dritten Bier auch schon einmal größeren Müll von sich geben kann, der wird, wenn die Stühle hochgestellt werden, am Ende eh rausgewischt. Es ist aber auch ein Ort, an dem Männer Mitte 50 diskutieren, wie sie ihre Töchter nennen würden, wenn sie denn welche hätten. Und einer, an dem Frauen Mitte 50 Menschen gefunden haben, die sie nun "ihre Familie" nennen, weil die sie mit Küssen und Freude begrüßen, wenn sie von der kalten Invalidenstraße aus das warme Caramel betreten. Ein Stammbeisl ist das, was manche meinen, wenn sie Heimat sagen. Und das bleibt es auch dann noch, wenn niemand mehr darin raucht.

Mit der Zeit werden die Schlagzeilen zum Rauchverbot seltener, die Gemüter beruhigen sich langsam. Auch die gefürchtete "Aktion scharf" des Marktamts ist weit unspektakulärer ausgefallen als zunächst befürchtet: Nach 2000 Kontrollen gab es gerade einmal 27 Anzeigen.

Zwei Wochen später, es ist bereits Mitte November, sitzen sie alle wieder an der Bar des Caramel: Mario und Adi, Joanna und ihr Kumpel, der seinen Namen nicht lesen will, auch jetzt nicht, obwohl er längst nicht mehr im Krankenstand ist. Rechts stehen zwei Tortenstürze mit Kuchen: Punschkrapferl und Gugelhupf, mitgebracht, nicht von einer neuen Karte. Joanna, die Stein und Bein geschworen hat, nie wieder herzukommen, wenn sie zum Rauchen rausmuss, feiert Geburtstag. Neben ihr witzelt Adi beim Stamperl, und an einem der Tische sitzt der Ehemann von Kellnerin Ioana und grinst, als sie auf ihn zeigt. Vor vier Jahren haben sie sich im Caramel verliebt, erzählt sie, vor zwei Wochen geheiratet. Weitere Bänke wurden mit Stoff überzogen, die Wände, die einst weiß und später nikotingelb waren, sind nun alle grün gestrichen. "Eine Runde Wodka!", ruft jemand.

Alles gleich und doch anders

Am Ende sei doch alles nicht so arg anders, sagt die Chefin des Caramel, wenn man sie nach den Auswirkungen des Rauchverbots fragt. Weder beim Umsatz noch bei der Klientel. In den nächsten Tagen will sie neue Bilder aufhängen und die Wände fertig tapezieren, es soll ein bisserl hübscher werden – klitzekleine Änderungen, sodass sie den meisten Gästen nicht einmal auffallen werden. Und Stammgast Mario? Der erzählt, dass er um die Ecke ein zweites Stammlokal hat. Eines mit Garten, mit Lichtern und Heizschwammerln. Aber da geht er nur an Freitagen und Samstagen hin. Die anderen Tage bleiben weiter fürs Caramel reserviert.

Veränderung ist ein Prozess, der sich über Wochen, Monate, Jahre ziehen kann. Drei Wochen später hängt nicht Adi an der Raucherbudl beim Eingang zum Caramel, sondern weiße Weihnachtsbeleuchtung. Der Winter hat begonnen, ums Eck vor dem Bahnhof werden bald Weihnachtsmarktstandln aufgebaut. Drinnen baumeln Christbaumkugeln in dicken Bündeln über der Bar. Die Barhocker sind leer. Auch solche Montage gibt es im Café Caramel. (Gabriele Scherndl, 23.11.2019)