Ich hatte wirklich oft Glück in meiner Karriere!" Wenn Führungspersönlichkeiten angesichts ihres Erfolges und Karrierewegs von Glück und Zufall sprechen, werde ich hellhörig. In den seltensten Fällen fiel Erfolg so einfach in den Schoß. Sehr oft standen und stehen noch nicht erkannte und bewusste Zusammenhänge dahinter. In meinen Beobachtungen während der vergangenen 20 Jahre erkenne ich folgende Muster: Einerseits sind dies oft Personen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige getan haben, was wiederum von relevanten Personen bemerkt wurde. Wie nennt man also dieses Phänomen, das nicht nur Glück heißt? Ich nenne es Chancenintelligenz; sie betrifft nicht nur den eigenen Karriereweg, sondern ist überall anwend- und erklärbar, sie gelingt intuitiv oder kognitiv.

Selektive Wahrnehmung, so verführerisch sie auch ist, wird dabei weitestgehend ausgeblendet, da sie vereinfacht. Mit dem Begriff Chancenintelligenz meine ich das Gespür für den richtigen Platz und die richtigen Menschen sowie einen ausgeprägten Instinkt für Geschäft und Kunden. Gute Voraussetzung dafür ist die persönliche Ausstattung mit aktuellem Wissen, gemachter Erfahrung und einem Gefühl für Menschen und Märkte. Wie ein Leader einmal zu mir sagte: "Ich muss weit in die Zukunft denken und am Weg die Chancenmomente erfassen können. Nur Spinnen und Utopisieren sind zu wenig. Dann brauche ich Leute, die das auf die Straße bringen."

Lösungen für Kunden

Chancenintelligenz, sofern Sie den Fokus darauf lenken, ist ein wirksames Mittel gegen apokalyptische Kollegen und Mitarbeitende. Utopische und dystopische Beschreibungen der Zukunft des Arbeitens beherrschen den Alltag gleichzeitig. Beide Szenarien – ob es nun durch Disruptionen und Digitalisierung für Arbeitende besser wird oder der Untergang naht – sind dem Einzelnen noch nicht so klar. In beiden Fällen gibt es Chancen, die erkannt werden müssen.

In der neuen Arbeitswelt, in der schnell und intensiv an Lösungen für Kunden gearbeitet wird, ist Chancenintelligenz notwendig. Hier wird gespürt, probiert und verworfen, und irgendwann kommt dann der Moment, an dem sich eine neue Tür öffnet.

Besonders relevant ist Chancenintelligenz beim Wiederaufstehen nach Misserfolgen oder Fehlern. Es gehört mit Sicherheit zu den schwierigsten Lernstrecken eines Leaders, aus dem eigenen Denken oder Handeln die richtigen Schlüsse zu ziehen. In einem noch so teuren Irrtum oder einer Sackgasse erkennen reflektierende Leader sogar Chancen für die nächsten und dadurch besseren Schritte. So ist Chancenintelligenz etwas, das unbewusst zum Einsatz gelangt oder aber erlernt und als psychologischer Reflexmuskel trainiert werden kann.

Das Mindset ist entscheidend, ob Chancen oder eher das Risiko gesehen werden.
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Das richtige Mindset

Seit den Untersuchungen von Carol Dweck können wir zwei unterschiedliche Mindsets, also Denk-, Fühl- und Handlungslogiken unterscheiden. Menschen mit einem dominanten "Fixed Mindset" lenken ihren Fokus auf Stabilität, Grenzen und Routinen. Menschen, die vorrangig über ein "Growth Mindset" verfügen, streben nach Erneuerung, Erkenntnis und Entwicklung. Wir alle haben zu diversen Themen beide Mindsets einmal stärker, einmal schwächer ausgeprägt.

Tendenzielle "Growth Mindset"-Besitzer haben Chancenintelligenz intuitiv ausgeprägt und sehen vorrangig Chancen. Diese Menschen haben auch Glaubenssätze wie "Geht nicht gibt’s nicht", "Das Glas ist immer halbvoll" oder "Was ist für uns in dieser Situation zu holen?".

In heterogenen Teams, die jetzt und in den nächsten Jahren die Zukunft unseres Arbeitens verändern, sind beide Mindset-Träger wichtig. Denn mit einem "Fixed Mindset"-Besitzer lassen sich Erfahrung und Risiko der Vergangenheit und Gegenwart umfassend einschätzen. Die große Frage heute für morgen lautet: Können wir unsere Mitarbeitenden vom "Growth Mindset" überzeugen oder dieses mit ihnen entwickeln? Lassen sich alle oder die meisten Menschen überzeugen, dass Wandel nicht nur überlebensnotwendig ist, sondern auch Chancen für einen selbst birgt?

Ich habe erfahren, dass wir nicht alle Menschen durchgehend auf der Reise mitnehmen können. Aber ich bin stärker davon überzeugt, dass durch Vorleben, Experimentieren, lustvolles Lernen und persönliches Erfahren Chancenintelligenz geübt und manchmal in Routinen überführt werden kann. (18.1.2020)