Wir wissen nun, dass die türkische Justiz nicht nur nicht unabhängig ist, sondern auch, dass Staatschef Recep Tayyip Erdogan direkt eingreift, wenn ihm ein Urteil nicht passt. Die erneute Festnahme des Menschenrechtlers Osman Kavala nur wenige Stunden nach einem Freispruch in einem ohnehin politischen Prozess machte ganz deutlich, dass auch eine jahrelange Gerichtsverhandlung nichts anderes ist als eine Farce.

Osman Kavala wurde nach seinem Freispruch erneut festgenommen.
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Sicher: Kavala ist ein Ausnahmefall, ein Mann, der von Erdogan persönlich verfolgt wird – so wie der Journalist Can Dündar, der mittlerweile in Berlin lebt, oder der Autor Ahmet Altan, dessen Freispruch Erdogan auch umgehend revidieren ließ. Und wahrscheinlich noch der kurdische Politiker Selahattin Demirtas, der ebenfalls seit Jahren im Gefängnis sitzt, weil er Erdogan gefährlich wurde.

Doch auch die systematische Verfolgung tausender vermeintlicher oder tatsächlicher Gegner des Präsidenten nimmt nicht ab. Erst am Dienstag gingen erneut rund 700 Haftbefehle gegen angebliche Putschisten heraus, und der Prozess gegen Menschenrechtler von Amnesty International und anderen Organisationen läuft noch.

Erdogan sieht sich von Verschwörern umzingelt, traut nur noch einem engen Beraterkreis und seiner Familie. Die Türkei funktioniert nicht mehr durch ihre staatlichen Institutionen, sondern nur noch in Reaktion auf Wünsche und Obsessionen aus dem Präsidentenpalast. (Jürgen Gottschlich, 19.2.2020)