Alexander Lukaschenko machte bereits jetzt mit Hinweisen auf "ausländische Verschwörungen" klar, dass er, wenn es um Kopf und Kragen geht, den russischen Präsidenten zu Hilfe rufen würde.

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Die dramatischen Ereignisse in Belarus und die folgenschweren Fehlkalkulationen des seit einem Vierteljahrhundert regierenden Machthabers Alexander Lukaschenko rufen eine symbolhafte Episode in Erinnerung.

Am 22. Oktober 1956, in einer Atmosphäre der allgemeinen Gärung in Ungarn, wurde bei einer Versammlung des Parteiaktivs im großen Eisenwerk von Csepel in Budapest der anwesende Sekretär des KP-Zentralkomitees, Károly Kiss, vor einer "konterrevolutionären Gefahr" gewarnt. Er teilte sofort die offizielle Meinung mit: "Wir können einen solchen Versuch in 30 Minuten liquidieren!" Dreizehn Tage später konnte das durch einen Volksaufstand entstandene Mehrparteiensystem des neutralen Ungarn nur durch sowjetische Panzer beseitigt werden.

Natürlich kann die langjährige persönliche Herrschaft des 65-jährigen einstigen Kolchosevorsitzenden in dem seit 1991 unabhängigen Belarus nicht mit dem kommunistischen Machtmonopol in einem besetzten Satellitenstaat Sowjetrusslands verglichen werden. Trotzdem zeigen die anhaltenden massiven Protestdemonstrationen, sogar ohne die inhaftierten oder geflüchteten potenziellen Führungspersönlichkeiten, gegen die Wahlfälschungen und gegen die Polizeibrutalität, dass es ein Trugschluss wäre, an die Kraft der Diktaturen zu glauben.

Belarus, mit einer überwiegend russisch sprechenden Bevölkerung von 9,5 Millionen und an Russland, Polen, die Ukraine, Lettland und Litauen grenzend, ist allerdings durch einen sogenannten Unionsvertrag militärisch und wirtschaftlich eng mit Russland verbunden. Der bedrängte belarussische Diktator konnte bisher durch Polizeigewalt den Zusammenbruch seines Regimes verhindern. Er machte bereits jetzt mit Hinweisen auf "ausländische Verschwörungen" und seinen mehrmaligen telefonischen Konsultationen mit Wladimir Putin klar, dass er, wenn es um Kopf und Kragen geht, den russischen Präsidenten zu Hilfe rufen würde.

Putin möchte ein chaotisches Ende des Lukaschenko-Regimes und erst recht einen demokratischen Durchbruch in diesem für Russland so wichtigen Nachbarland verhindern. Zu den möglichen Optionen gehört auch Asyl für den gestürzten Diktator, um einen Ausweg zu finden. Die bisher ausschließlich friedliche belarussische Opposition darf jedenfalls für die Diktatoren in Minsk und Moskau keinen Vorwand des "Komplotts mit dem Westen" für eine Intervention liefern.

Die Reden des US-Außenministers Mike Pompeo während seiner mittel- und osteuropäischen Blitzbesuche spiegeln die Gleichgültigkeit der Trump-Regierung angesichts der Krise in Belarus. Die EU hat keine Mittel, der demokratischen Opposition direkt zu helfen und Lukaschenko zum Verzicht auf Gewalt zu zwingen. Sie sollte trotzdem rasch handeln, bei einem von Polen geforderten Sondergipfel zumindest die sofortige Freilassung der inhaftierten Demonstranten und die Abhaltung von Neuwahlen mit der Zulassung von internationalen Beobachtern fordern und schmerzhafte Sanktionen beschließen.

Die Zeit drängt, weil die Dynamik der Proteste gegen einen geschwächten, aber zu allem fähigen Herrscher jederzeit verhängnisvolle Folgen, sogar ein Blutbad auslösen könnte. (Paul Lendvai, 18.8.2020)