In den ersten Stunden nach einem Terroranschlag ist Mitgefühl gefragt, geht es um den Zusammenhalt der Bürger. Ein Attentat dieser Brutalität erschüttert die ganze Gesellschaft, löst Schock, Zorn oder Angst aus. Die meisten Menschen müssen das erst einmal verarbeiten, sich der Gemeinschaft versichern. Da ist dann kein Platz für Kritik, schon gar nicht an der Arbeit von Polizei und Geheimdiensten.

Der Bundespräsident und die Regierung vom Bundeskanzler abwärts hatten also schon recht, wenn sie öffentlich trauerten, sich zu Toleranz und Demokratie bekannten – und die Einsatzkräfte besonders lobten. Staatstrauer tut not. Das zeigt die Erfahrung bei vielen Anschlägen in Europa, angefangen bei jenem auf den Bahnhof Atocha in Madrid im Jahr 2004. Damals sprengten Islamisten vier Züge, 191 Menschen starben, mehr als 2000 wurden verletzt. Es folgten viele Terrorakte: in London, Paris, Brüssel, Straßburg, Nizza, Berlin.

Trauerbekundungen am Schwedenplatz nach dem Terroranschlag in Wien.
Foto: imago/Kurt Piles

Aus Erfahrung damit weiß man auch, dass bald sehr unangenehme Fragen auftauchen, unter welchen Umständen es zu den Attentaten kam. Nach dem Blutbad im Pariser Bataclan-Theater 2015 und später in Brüssel mussten die Terrorbekämpfer Wochen danach einräumen, dass ihnen schwere Fehler bei der Überwachung islamistischer Netze passiert waren.

Im Fall des 20-jährigen Attentäters in Wien dauerte es keine 48 Stunden, bis haarsträubende Details bekannt wurden. Dass er als IS-Sympathisant und Gefährder vorzeitig aus der Haft entlassen und einem Reintegrationsprogramm zugeführt wurde, das ließe sich noch erklären: Die gesetzlichen Voraussetzungen erlauben das. Aber wie kann es sein, dass ein "Syrien-Kämpfer" intensiv von Bewährungshelfern und Anwalt betreut wird, die Terrorfahnder in Wien aber nicht bemerkten, dass er zu Hause ein Waffenarsenal anlegte und Kontakte in einem Netzwerk von Islamisten hatte?

Unglaublich auch, dass Informationen von Diensten aus der Slowakei, wo er Munition kaufen wollte, verschlampt wurden. Der "junge Mann" habe eben alle getäuscht, rechtfertigen sich nun die Verantwortlichen. Wie naiv kann man sein? Islamisten kontrolliert man nicht mit gutem Zureden, sondern durch hohen Polizeidruck. Sie müssen wissen, dass sie unter Beobachtung stehen. Innenminister Karl Nehammer hat recht, wenn er fordert, dass man sich das alles "genauer anschauen" muss – in seinem Ministerium. Es riecht nach Versagen. (Thomas Mayer, 4.11.2020)