Politikwissenschafter Claus Leggewie schreibt in seinem Gastkommentar über die Protestbewegung Occupy – und was daraus wurde.

Unter dem Slogan "We are the 99 percent" besetzte vor zehn Jahren eine Protestbewegung namens Occupy den Zuccotti Park nahe Wall Street; das Zeltlager war ein Stachel im Finanzdistrikt und der Fehdehandschuh an die Finanzbranche, die so viel Leid über so viele Menschen gebracht und bis heute nicht überwundene Schäden verursacht hatte.

Vorbild war der Arabische Frühling, der im Tahrir-Platz von Kairo ein bildmächtiges Symbol gefunden hatte. Der parallele Aufstieg der Tea-Party-Bewegung zeigt, dass sich Protestbewegungen wie aus dem Nichts entwickeln können, weil die Bindekraft politischer Parteien und die Legitimität der Eliten dramatisch geschwunden sind, was dann für so unterschiedliche Bewegungen wie Black Lives Matter, Gelbwesten und Fridays for Future galt. Möglich war das durch die Plattformen in den sozialen Medien, deren Nutzung bei Jüngeren zu den primären Kulturtechniken gehört.

Illustration: Felix Grütsch

Genauso schnell verschwand Occupy wieder von der Protestbühne. Die Aktivisten konnten sich nicht entschließen, den institutionellen Weg einzuschlagen und sich mit progressiven Kräften innerhalb und außerhalb des politischen Systems zu verbünden. Im Anarchismus, dem Occupy ideologisch entstammt, ist die Angst vor der Vereinnahmung durch "das System" zu stark. Micah White, ein Vordenker von Occupy, machte rückblickend die Alternative auf, man hätte entweder Kriege oder Wahlen gewinnen können. Revolutionären Aufstand wollte bei aller Guy-Fawkes-Attitüde kaum jemand, und der parteipolitische Weg hat in Zweiparteiensystemen mit Mehrheitswahlrecht wie in den USA und Großbritannien kaum eine Chance.

Langatmige Versammlungen

Hinzu kam, dass die Bewegung sehr vage Botschaften kommunizierte. Auch Sympathisanten nervte die Zögerlichkeit, mit der langatmige Versammlungen Position bezogen, Entschlüsse fassten und Aktionen anleierten. Ich erinnere mich an das "menschliche Mikrofon" (Human Mic), bei dem die Worte des Vorredners stets wiederholt werden mussten, was meist in einer gewaltigen Kakofonie endete. So wirkte es oft so, als sei der Weg das Ziel, als gehe Identität vor Effektivität. Occupy kam am Ende wie eine selbstzufriedene Sekte daher, nicht als wache soziale Bewegung. Als dann auch noch gewaltbereite Autonome (Blockupy) andockten, schwand die anfänglich beachtliche Sympathie. Das Ansehen der Marktwirtschaft war damals auf einem Tiefpunkt angelangt, und auch die soziale Marktwirtschaft europäischen Typs hat sich davon nicht wieder erholt. "Bad Banks" ist das Stigma der Epoche, Skandale aller Art bestätigen es fast täglich.

Doch Scheitern ist immer relativ. Der linke Populismus eines Bernie Sanders erstarkte, in der Demokratischen Partei entstand eine sozialdemokratische Strömung, deren Forderungen sich Joe Biden im Wahlkampf zu eigen machte. Ironischerweise hat Occupy so die Rückkehr des Staates befördert. Und die Millennials und die Generation Z haben sich nicht nur in den USA politisiert. Aber parallel dazu schafften es Rechtspopulisten, den sozialen Klassenkonflikt nach rechts zu verschieben, vor allem mit der Angstmache hinsichtlich eines "Bevölkerungsaustausch" durch Masseneinwanderung; sie propagieren ein "Nation first", das tief rassistisch und autoritär ist. Mit pauschaler Elitenverachtung hat Occupy solchen Tendenzen Vorschub geleistet. Kritik an der finanzwirtschaftlichen Globalisierung darf aber nicht zur Verdammung jeder multilateralen Politik führen oder gar in Antisemitismus verfallen, wie er nicht nur vereinzelt heute links wie rechts anzutreffen ist. Statt Bernie Sanders kam Donald Trump, der wieder auf ein Comeback sinnt.

Die nach 2011 in den Panama und Pandora Papers bekannt gewordenen Finanztransaktionen sprechen jeder Moral und Gesetzlichkeit Hohn, worin auch Österreich, Deutschland und weitere EU-Länder massiv involviert sind.

Sozialer Protest

Das ist die heutige Lage: Regierungen suchen händeringend nach Billionen Euro, um die Löcher der Pandemiekrise zu stopfen und die Aufgaben der Klimapolitik zu bewältigen. Doch bekommen superreiche Spekulanten den Hals nicht voll genug, kungeln Regierungen – siehe Cum-Ex-Skandale – fleißig mit. "Bad Governments" heißt das Stigma heute.

Occupy hatte einen Tunnelblick. Eine sozialverträgliche Bearbeitung der Klimakrise hängt heute zuallererst davon ab, wie man Steuergerechtigkeit herstellt, Wirtschaftskriminalität abstellt und Mittel für die Investitionsfonds bereitstellt, aus denen eine sozialökologische Wende zu finanzieren ist. Sozialer Protest ist notwendig, um das durchzusetzen, aber für umfassenden Klima- und Artenschutz ist man auf gute Gesetzgebung, also parlamentarische Mehrheiten, angewiesen, genau wie auf die Kooperation mit Unternehmen in einem (echten!) Green New Deal. Und auf zivilgesellschaftliche Bündnisse, die breiter und nachhaltiger sind als Occupy. (Claus Leggewie, 16.10.2021)