Es ist schlicht verqueres Denken zu glauben, Verbote seien prinzipiell schlecht, sagt der Sozioökonom Andreas Novy im Gastkommentar.

Am Samstag wurde in Wien gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung demonstriert – nicht nur vereinzelt trat ein verqueres Verständnis von Freiheit und Demokratie zutage.
Foto: Toppress / Karl Schöndorfer

Isolde Charim eröffnete die Buch Wien mit einem Denkmuster, das Demokratie mit Freiheit gleichsetzt (siehe "Die Querdenker als Symptom"). Mit diesem begibt sich die Gesellschaft allerdings in eine gefährliche Sackgasse. Wahr an Charims Befund ist: Für einige Jahrzehnte überstrahlte die Freiheit alles, auch die beiden anderen Werte der Französischen Revolution: Gleichheit und Brüderlichkeit (Solidarität). Der Fall des Staatssozialismus sowie der Aufstieg von Neoliberalismus und Postmoderne förderten die Illusion, Freiheit sei einzig die Abwesenheit von Zwang, allen voran staatlichem Zwang.

Neoliberale erzogen die Menschen, das Ausmaß ihrer Freiheit an der Höhe des Bankkontos zu messen. Die Produktwahl im Shoppingcenter wurde wichtiger als politische Entscheidungsprozesse. Voten galt als Demokratie. Und auch die Linke entdeckte den Liberalismus: Individuelle Lebensformen wurden durch Antidiskriminierungsgesetze gesichert. Neoliberale wie Linke strebten danach, individuelle Freiheitsräume auszuweiten, den Staat zu beschränken. Das gute Leben wurde privatisiert: Die einen kauften immer größere Autos, die andere stiegen auf das Fahrrad um.

Ein Legitimitätsverlust

In einer derart individualisierten Gesellschaft ist es Aufgabe des Staates, möglichst wenig zu stören, und Aufgabe der Demokratie, staatliche Willkür zu verhindern. Die Folge war ein Legitimationsverlust von Politik und Staat.

Ein derart verantwortungsloses Freiheitsverständnis kann jedoch nicht von Dauer sein, denn ohne Regeln, Verpflichtungen und Verbote gibt es keine Gesellschaft. Es ist schlicht verqueres Denken zu glauben, Verbote seien prinzipiell schlecht. Nur weil es das Verbot gibt, sich fremdes Eigentum anzueignen, kann Privates genutzt werden. Nur weil es verboten ist, auf der Straße zu spielen, können sich Autos rasch bewegen. Und nur wenn es Autos verboten wäre, auf der Straße schneller zu fahren als Schrittgeschwindigkeit, könnten Kinder auf ebendiesen spielen. Verbote sind Grundlage von Freiheit, dialektisch miteinander verbunden.

"Freiheit kann und darf nur verantwortungsbewusst ausgeübt werden."

Für Hans Kelsen, Architekt der österreichischen Bundesverfassung, war Demokratie die beste Herrschaftsform, weil sie diejenige ist, die individuelle Freiheiten am wenigsten beschränkt. Moderne Gesellschaften sollten sich, Kelsen folgend, am Freiheitsbegriff der antiken Polis orientieren, in der Freiheit und Verantwortung Hand in Hand gingen. Demokratie ist dann eine Form kollektiver Selbstbeschränkung, Freiheit eine Form koordinierten und gemeinsamen Handelns der Bürgerinnen und Bürger. Diesen sozialen Freiheitsbegriff unterschied Kelsen von einem natürlichen und anarchischen Freiheitsbegriff möglichst unbehinderter Selbstentfaltung – dem Selbstverständnis beispielsweise der Freiheitlichen Partei Österreichs.

Für Kelsen ist Demokratie die Herrschaft der Mehrheit. Da ihm bewusst war, dass dies gefährlich werden könne, gibt es in unserer Verfassung auch den Schutz von Minderheiten, von Grundrechten und der Privatsphäre. Demokratie und Freiheit stehen in der österreichischen Bundesverfassung in einem Spannungsverhältnis. Einzelne Maßnahmen – wie eine Impfplicht – sind immer in diesem abzuwägen. Damit sind wir mitten in den Debatten zur Pandemiepolitik, die als Trauerspiel die ganz konkreten, schmerzhaften Folgen illustriert, zu denen ein falsches Verständnis von Freiheit und Demokratie führt. Niemandem ist die Freiheit genommen, sich zu besaufen. Aber es wäre ein verqueres Freiheitsverständnis, die Freiheit einzufordern, alkoholisiert Auto zu fahren. Freiheit kann und darf nur verantwortungsbewusst ausgeübt werden.

Fehlender Mut

Die Alternative zum "anarchischen" Freiheitsverständnis ist die Idee eines Gemeinwesens, in dem demokratisch legitimierte Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger die Aufgabe haben, das Zusammenleben so zu regeln, dass möglichst viele in möglichst vielen Belangen frei sein können. So viel Freiheit wie möglich, so viel staatliche Eingriffe zum Schutz der Bevölkerung wie nötig.

In Österreich haben die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger – mit Ausnahme des Wiener Bürgermeisters – der Demokratie durch verspätete Maßnahmen, durch die schlechte Organisation von Tests und Impfkampagnen geschadet. Der schwerste Fehler der beiden Bundeskanzler war ihr fehlender Mut, ihre demokratische Aufgabe wahrzunehmen: zum Schutz der Bevölkerung zeitgerecht auch unbeliebte Maßnahmen zu ergreifen. Und der Gesundheitsminister war nicht zu autoritär, wie dies verqueres Denken behauptet, sondern im Gegenteil: Er konnte sich viel zu lang nicht durchsetzen mit seiner Überzeugung, dass Freiheit mit Verantwortung einhergehen muss, dass es Regeln braucht und dass Freiheit Solidarität mit Immungeschwächten, akut Erkrankten und Verletzten und dem Gesundheitspersonal erfordert.

Freiheit wofür?

Denn ein verqueres Freiheitsverständnis wird leider von allzu vielen geteilt: dass nämlich die Freiheit einer großen Minderheit nicht beschränkt werden dürfe, andere mit einem tödlichen Virus anzustecken. Die demokratische Alternative zu solch verquerem Freiheitsverständnis heißt, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen – um Leben zu retten und mittelfristig wieder ein sicheres Leben zu ermöglichen. Denn wenn es eine Lehre aus der Zwischenkriegszeit gibt, dann diese: Ist Demokratie nicht imstande, ein gesichertes und gutes Leben zu gewährleisten, dann greifen Menschen nach autoritären Lösungen. Dann kann ein pervertierter Freiheitsbegriff von Staatsverweigerern der Demokratie den Todesstoß versetzen. Dann wären die Samstagsdemos nur der Auftakt zur Demontage unserer liberalen Demokratie gewesen.

Deshalb braucht es dringend besseres demokratisches Entscheiden und Handeln: mutig, transparent und wissenschaftsbasiert. Letzten Freitag taten dies Bundes- und Landesregierungen – viel zu spät, aber letztlich doch. Kelsens Vom Wesen und Wert der Demokratie zu lesen, könnte helfen, in Zukunft schon früher das Richtige zu tun. (Andreas Novy, 23.11.2021)