Bedrohliche Flossen: drei Orcas auf der Jagd.
Foto: Gabriel Rojo / imago / Nature Picture Library

Haie gelten für viele als gefährlichste Bedrohung im Meer, seit es der Filmmusik zu "Der weiße Hai" gelang, mit nur zwei Noten für steigende Herzfrequenz zu sorgen. Nach dem vermutlich Lockdown-bedingten Rückgang der nichtprovozierten Haiangriffe auf Menschen im Jahr 2020 auf 52 ist diese Zahl 2021 wieder auf 73 gestiegen. Allerdings gibt es auch Tiere, vor denen sich Haie fürchten: Weiße Haie meiden Gebiete, in denen sich Orcas auch nur auf Durchreise befinden, bis zu ein Jahr lang.

Der Orca oder Schwertwal ist auch als "Killerwal" bekannt – und das nicht grundlos. Zwar stellen Menschen und die mannigfaltigen Auswirkungen ihres Handelns für Wale, Haie und die übrige Bevölkerung maritimer Ökosysteme eine Bedrohung dar. Doch es kommt immer häufiger dazu, dass die mit Delfinen verwandten Orcas Boote rammen, und mehrere aggressive Angriffe auf andere Meeressäugetiere – von Seelöwen bis zu Grauwalen – sind bekannt.

Zur Jagd auf junge Seelöwen kommen Killerwale auch nah an Strände heran – hier in Argentinien.
Foto: Gabriel Rojo / imago / Nature Picture Library

Angriff des Matriarchats

Nun beschrieb ein australisch-amerikanisches Forschungsteam im Fachjournal "Marine Mammal Science", wie die etwa sieben bis zehn Meter langen Schwertwale in Gruppenformation Jagd auf einen Blauwal machten. Und Blauwale können immerhin auf bis zu 33 Meter Länge und 200 Tonnen Gewicht kommen, womit es sich um die schwerste bekannte Tierart handelt, die jemals auf der Erde lebte. Darüber, dass Killerwale Blauwalen hinterherschwimmen, ist bereits berichtet worden – doch authentische Berichte über räuberische Angriffe sind äußerst selten.

Um sich und den Nachwuchs zu ernähren, machen sich Orcas manchmal offenbar auch auf die Jagd nach Blauwalen.
Foto: imago/Anka Agency International

Vor der westaustralischen Küste gelang es dem Team nun, drei Angriffe zu registrieren. Einer davon fand 2021 statt, zwei im Frühling 2019. Bei einem Opfer handelte es sich sogar um ein ausgewachsenes Tier mit 18 bis 22 Metern Länge – also rund doppelt so lang wie die Räuber, die dafür durch mehrere Angreiferinnen und Angreifer punkteten: Rund ein Dutzend Orcas schloss sich für die mehr als einstündige pausenlose Jagd zusammen. Orcagruppen werden matriarchalisch vom ältesten weiblichen Tier geleitet, und Weibchen sind als Ernährerinnen der Jungen dem Forschungsteam zufolge wohl häufiger auf Beutefang – obwohl sie im Durchschnitt um etwa 20 Prozent kleiner sind als Männchen.

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Deliziöse Zunge

Als der Blauwal erlegt war, profitierten mehr als 50 Orcas (und etliche Vögel) vom üppigen Festmahl (der Bericht im "Guardian" beinhaltet ein Video). Und während sich die hungrigen Tiere das Menü überraschend friedlich teilten, bemerkte die Forschungsgruppe ein ungewöhnliches Vorgehen: Kurz vor dem Tod des Blauwals wagten sich einzelne Schwertwale ins Maul vor, um die Zunge des Blauwals zu verspeisen – der große Muskel ist offenbar eine besondere Delikatesse.

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Blauwale sind die massivsten Lebewesen der Erde.
Foto: REUTERS/NOAA

Bei diesen besonderen Ereignissen, deren Dokumentation nun gelang, handelte es sich um "das größte Raubtierereignis der Erde", sagte einer der Studienautoren, Robert Pitman von der Oregon State University – "vielleicht sogar das größte, seit die Dinosaurier nicht mehr da sind". Sechs Tage nach dem Angriff besuchte das Team täglich die Stelle in relativer Küstennähe. Der Kadaver sank auf den Meeresboden, doch ein Ölteppich auf der Oberfläche zeugte in den ersten Tagen noch vom Ableben des fettreichen Blauwals.

Wieder zunehmende Blauwalpopulationen

Die zweite und dritte Attacke betraf jeweils Blauwal-Jungtiere, die zehn bis 14 Meter lang waren und von 25 beziehungsweise zwölf Schwertwalen angegriffen wurden – wieder mit einer Angreiferin, die sich sogleich über die Zunge hermachte. "Die kleine Stichprobe der Studie schränkt die Erkenntnisse, die wir gewinnen können, ein", sagt Peter Richardson von der Marine Conservation Society des Vereinigten Königreichs. Dennoch erweitere die faszinierende Studie das Wissen über die Beutetiere der Orcas.

"Dieses Verhalten findet vielleicht schon seit Jahrhunderten auf dem offenen Meer statt, wo wir es nur schwierig untersuchen können", sagt Richardson. Womöglich ist es mittlerweile auch häufiger zu beobachten, da sich die Bestände der Blauwale wohl allmählich etwas erholen. Während vor dem historischen Walfang vermutlich etwa 300.000 Blauwale lebten, sind es heutzutage nur mehr 15.000 bis 20.000 Exemplare – mit leicht aufsteigender Tendenz. (sic, 31.1.2022)