Die Krise im Osten Europas wird immer mehr zu einer Propagandaschlacht. Mit aggressiven Informationskampagnen versuchen sowohl USA als auch Russland, ihre Sicht der Dinge durchzusetzen. Und senden dabei immer wieder auch widersprüchliche Signale. Russlands Präsident Wladimir Putin etwa wiederholte bei seinen Treffen mit hochrangigen europäischen Politikern mantra-artig, dass man eine militärische Eskalation dringend vermeiden müsse. Zugleich zog er immer noch mehr Material und Menschen an der Grenze zur Ukraine zusammen. Was im Grenzgebiet tatsächlich vor sich geht, bleibt häufig unklar. Denn das russische Parlament hat ein Gesetz erlassen, dass es unter Strafe stellt, gezielt Informationen über das russische Militär zu sammeln und zu verbreiten.

Doch auch die Kommunikation der USA scheint diffus. Die amerikanische Regierung warnt seit Wochen davor, dass der Kreml die Ukraine jeden Moment überfallen könnte, am Freitagabend wurden die Alarmsirenen noch einmal sprunghaft lauter; schon zuvor sprach Joe Biden in drastischen Worten davon, man müsse einen "Weltkrieg" vermeiden, und rief US-Bürger zum Verlassen der Ukraine auf. Doch während man in Washington Alarm schlägt, verhandelt man weiter mit Russland.

Wie wird der Konflikt in den Russland und den USA medial verarbeitet, welchen Eindruck erhält man, wenn man nur die dortigen Medien verfolgt? Der STANDARD hat zwölf Stunden lang Perwy Kanal geschaut, Russlands halbstaatlichen "Ersten Kanal", auf dem Kriegspropaganda und Ernährungstipps ineinanderlaufen. Und parallel dazu verfolgt, wie die größten Nachrichtensender in den USA die angespannte Situation im Osten Europas covern.

RUSSLAND

Russland ist in Gefahr. Die Großmacht wird vom Westen provoziert, in die Enge getrieben und vor allem: nicht respektiert. Das ist glasklar. Zumindest, wenn man einen Tag lang russisches Staatsfernsehen schaut.

In den Nachrichten wird die Dialogbereitschaft der EU-Staaten hinterfragt.
Foto: Screenshot / Perwy Kanal

Es ist 9 Uhr in Moskau, die Nachrichten auf Perwy Kanal, einem der populärsten russischen TV-Sender, berichten über ein Treffen zwischen Deutschlands Kanzler Olaf Scholz, dem Präsidenten Frankreichs Emmanuel Macron und dem Präsidenten Polens Andrzej Duda, die mit Russland in den Dialog treten wollen. "Aber", sagt Nachrichtensprecherin Valerija Korabljowa, "über welchen Frieden und welche Stabilität soll man sprechen, wenn die USA Truppen und Waffen nach Polen schicken?" Die Frage dient als Programmvorschau für den restlichen Tag. In der EU wird gerätselt, wie man den Kriegstreiber Putin zur Vernunft bringen kann. Im Perwy Kanal fragt man sich hingegen, wie Russland gefasst am Verhandlungstisch sitzen soll, während sich die Ukraine und Polen bis an die Zähne bewaffnen und US-Soldaten an die russische Grenze einladen.

Zu Hause steckt man sich am leichtesten mit dem Coronavirus an, lernt man in Gesund leben!
Screenshot / Perwy Kanal

Der Vormittag bietet eine Pause. Um 9.50 Uhr läuft Gesund leben!, die Ärztin der Nation Elena Malschewa erklärt alles, was man für einen gesunden Lebenswandel wissen muss. Heute geht es um die Pandemie: Die Engländer fahren ihre Maßnahmen massiv zurück, berichtet die Moderatorin umringt von männlichen Kollegen in Arztkitteln– und das sei auch richtig so. Denn "die Medien" würden nur Panik schüren. Dass Schulen offenbleiben sollten, wird experimentell belegt: In einer transparenten Plastikbox stehen drei Pappfiguren, die die russische Kernfamilie darstellen: Vater, Mutter, Kind. Durch die Box werden gelbe, rote, violette Konfetti geblasen, und man sieht: Alle stecken sich an. Logischer Schluss: Wären sie in diesem Moment bereits im Kindergarten oder auf dem Weg zur Arbeit gewesen, wäre das nicht passiert.

Um 10.55 Uhr erduldet in Modeurteil eine schüchterne Ehefrau auf Initiative ihrer Schwester ein Umstyling, damit sie auch für ihren Mann endlich wie eine "echte Prinzessin" aussieht. Und dann ist das russische Wohlfühlprogramm vorbei.

In Die Zeit wird es zeigen wird hitzig diskutiert.
Foto: Screenshot / Perwy Kanal

Zu Mittag geht es weiter mit Die Zeit wird es zeigen. Die Polit-Talk-Show beschäftigt sich mit Tagesaktuellem. Dass sie meist mit Schreiduellen zwischen Moderierenden und Gästen endet, ist fast so etwas wie ihre Trademark. Das Moderationsduo steht – wie die Mehrheit der sieben männlichen Diskutanten – klar auf der Seite Russlands. Als Watschenmänner in der Debatte sind ein ukrainischer und ein polnischer Politologe sowie ein amerikanischer Journalist schnell ausgemacht. Die Diskutanten fungieren in der Sendung immer auch als Repräsentanten ihres Heimatlandes. Russland wird – anders als in der Berichterstattung in den USA und Westeuropa – als Opfer gezeichnet.

Westliche Medien stellen Wladimir Putin mal als genialen Strategen, dann wieder als unberechenbaren Heißläufer dar, in jedem Fall aber als Gefahr. Hier malt man ein anderes Bild: Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, ist eine Lachnummer, benutzt von Nato-Mitgliedern und den USA, die ihre Einflusssphäre skrupellos nach Osten erweitern wollen. Wenig überraschend kommt daher die Nachricht, dass die Ukraine die USA gebeten hat, Abwehrraketen mit einer Reichweite von 1.000 Kilometern in Charkiw zu positionieren. "Das ist eine Provokation!", sagt der Moderator und spricht damit nur aus, was sich der Zuschauer sowieso schon denken muss.

Dann bietet das Heiß-Kalt von Perwy Kanal wieder Entspannung ein. Ab 15.15 Uhr werben in Lass uns heiraten! drei Männer um die Hand einer meist von Schicksalsschlägen heimgesuchten Heiratswilligen, die aber zunächst noch vor den mütterlichen Moderatorinnen so ziemlich alles, was in ihrem Leben schief gegangen ist, offenlegen muss.

Eine Reporterin berichtet in den Nachrichten direkt aus dem Schützengraben.
Foto: Screenshot / Perwy Kanal

Um 18 Uhr gibt es erneut Nachrichten. Die Russen müssen sicher sein, dass die Gerichte gerechte und faire Entscheidungen treffen, sagt Putin bei einer Online-Konferenz mit Vertretern der russischen Richterschaft. Das russische Höchstgericht werde immerhin dieses Jahr 100 Jahre alt. Die Meldung scheint zwar irrelevant, aber Putin taucht auch mit Belanglosigkeiten oft auf. Der Präsident wird nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, in den höchsten Tönen gelobt. Aber: Er ist präsent und es wird gezeigt, dass er sich um die Anliegen seiner Bürger kümmert.

Präsident Wladimir Putin kommt oft auch mit scheinbaren Belanglosigkeiten in den Nachrichten vor.
Foto: Screenshot / Perwy Kanal

Später erfährt man in den Abend-News dann, dass Kiew Pläne schmiede, mit gefälschten Videos Russland zu provozieren – eine exakte Umkehrung des Vorwurfs, den die USA zuvor Russland gemacht hatten. Außerdem werden an der Grenze zum Donbass von Kiew Panzer zusammengezogen. Und ukrainische Hacker haben veröffentlicht, dass das Land seit 2014 Waffen von Nato-Mitgliedsstaaten erhalten habe, in Summe im Wert von über sieben Millionen Dollar. Diese Waffen seien allerdings nicht nur zur Verteidigung gedacht, wie die Ukraine behauptet. Wer einzig Perwy Kanal als Nachrichtenquelle wählt, kann nur zu einem Schluss kommen: Russland muss auf diese Provokation reagieren.

In den US ist die Diskussion dank freier Presselandschaft eine gänzlich andere. Dass die US-Medien aber ganz frei von Propaganda seien, lässt sich dennoch nicht behaupten. Auch, wenn es sich nicht immer um solche handelt, die vom Staat ausgeht.

USA

Es ist 6.30 Uhr Früh, aber "Fox-&-Friends"-Morgenshowmoderator Steve Doocy ist schon auf 180. Kann man nicht schon jetzt von einer Invasion an der Grenze sprechen, fragt er seinen Gast. Auf jeden Fall, stimmt Mark Brnovic zu. Der bewirbt sich im republikanischen Vorwahlkampf um einen Senatssitz, im Frühstücksfernsehen will er Härte zeigen. Beim rechten US-Sender Fox News geht es um die Grenze zwischen den USA und Mexiko und um Migration.

Fox & Friends
Foto: Screenshot / Fox News

Der knapp vor der Eskalation stehende Konflikt an der Grenze zwischen der Ukraine und Russland ist kein Thema, auch nicht nach dem Werbeblock, wo Testosteronpräparate beworben werden, "weil Ihre Männlichkeit zu wichtig ist, um schwachen Formeln zu vertrauen". Stattdessen geht es um noch eine andere Grenze: Jene zu Kanada, wo Trucker im Protest gegen die kanadische Impfpflicht eine Brücke blockiert haben. Vollig zurecht, findet Fox News. Die Ukraine ist so weit weg wie die Erinnerung an den Kalten Krieg, das Interesse fehlt – und wohl auch der catchy Spin.

Good Morning America
Foto: Screenshot / ABC

Ist das Säbelrasseln zwischen den USA und Russland ob eines drohenden Ukraine-Krieges für seriösere Sender relevanter? Sieben Minuten dauert es um 7 Uhr, ehe man bei "Good Morning America", der Morgenshow des Netzwerk-TV-Senders ABC, zum Thema kommt. Live-Schaltung zu Korrespondent Terry Moran, der sich in Kiew befindet und ein wenig so tut, als wäre es auch dort noch früher Morgen. Moran spricht über neue Manöver der ukrainischen Armee. "Eine provokante Entscheidung", lautet seine Einschätzung. Zwei Minuten später ist der Beitrag vorbei. Die Sendung widmet sich, wesentlich ausführlicher, einem Thema, das die amerikanischen Zuseher offensichtlich mehr interessiert: Den Olympischen Spielen.

Mixed Signals bei MSNBC.
Foto: Screenshot / MSNBC

Endlich länger geht es in den MSNBC-Nachrichten um 8 Uhr die Ukraine. Der Sender, der etwas schrill die Stimme der liberalen USA wiedergibt, setzt das Geschehen unter den wenig missverständlichen Titel "Putins Aggression gegen die Ukraine". Thomas Friedman, "New-York-Times"-Kolumnist und als Interviewpartner geladen, will sich trotzdem nicht festlegen, ob es zum Krieg kommt. Vielleicht könnte man aber Russland in die Nato einladen, unter der Bedingung, dass das Land demokratische Wahlen durchführe. So, meint Friedman, könnte Putin womöglich unter Druck gesetzt werden. Dessen größtes Problem sei aber wohl ohnehin der Klimawandel, weil der Permafrostboden taut.

Panzer werden wieder flottgemacht.
Foto: Screenshot / CNN

"Full Potency Prostate!" ist das erste, was um kurz vor 9 Uhr Ortszeit im US-Programm von CNN zu hören ist. Medikamentenwerbung ist auch dem Newskanal aus Atlanta eine tragende Stütze. Die im Stakkato vorgetragenen Nebenwirkungen der diversen Mittel will man lieber nicht so genau kennen. Eine halbe Stunde lang geht es um die Maskenpflicht in Schulen, Truck-Proteste in Kanada und eine neue E-Auto-Fabrik, dann meldet sich Korrespondent Sam Kiley aus Charkiw, jener Stadt im Nordosten der Ukraine, die bei einem russischen Angriff schnell zum Ziel werden könnte. Er war in einer Fabrik, in der Panzer aus den 1960er-Jahren wieder flott gemacht werden und bei Schießübungen für Zivilisten. Für den Fall einer "möglichen Invasion", wie es auch im CNN-Bildtext heißt.

"Möglich", und nicht "sicher". Die Unterscheidung war in den USA zuletzt Anlass für Diskussion. Allzu bereitwillig hatten "New York Times" und "Washington Post" Einschätzungen von Außen- und Verteidigungsministerium übernommen, die von einem "unmittelbar bevorstehenden" Angriff sprachen, der dann aber nicht so unmittelbar kam. Was nicht heißt, dass es keinen Widerspruch gäbe. Als Außenministeriums-Sprecher Ned Price vorige Woche über den angeblichen russischen Plan informierte, mit einem manipulierten Video einen Kriegsgrund schaffen zu wollen, löcherte ihn AP-Reporter Matt Lee knapp fünf Minuten mit Fragen nach Beweisen. Price konnte keine liefern.

Mike Lindell und der niedrigste Preis der Geschichte.
Foto: Screenshot / Fox News

Daran gab es Kritik, von seriösen Medien, aber auch von Tucker Carlson. Der populäre Meinungs-Anchor von Fox News hat, anders als das News-Team seines Senders, durchaus eine Ansicht zu der Krise. Eine "Kriegsmaschine" aus Neocons und Demokraten würde den Konflikt zu schüren, "in irgendeinem osteuropäischen Land, das für uns immer irrelevanter wird". Seine Auslassungen dazu hat dann auch das russische TV übernommen.

Derzeit, am Nachmittag Ortszeit, tritt im Werbeblock des Senders aber nur Polsterfabrikant Mike Lindell auf, der im Jänner 2020 für Aufmerksamkeit sorgte, als er auf dem Weg ins Weiße Haus mit einem deutlich lesbaren Putschplan fotografiert wurde. Diesmal verspricht er nur "den niedrigsten Preis in der Geschichte" für seine Polster.

Zu PBS verirren sich nur die besonders Interessierten.

Bleibt die Frage: Was ist eigentlich bei PBS zu sehen, jenem Sender, der am ehesten einem öffentlich-rechtlichen TV entspricht? Kurz nach 17 Uhr Ortszeit: Kinderprogramm. Aber am Vortag war die Ukraine-Krise Schwerpunkt in Newshour, der wichtigsten Nachrichtensendung. Zu Gast war unter anderem der französische UN-Botschafter, der vieles über Emmanuel Macrons Besuch bei Putin erzählte. Die Zuschauerzahlen der Sendung sind aber gering. (Levin Wotke, Manuel Escher, 12.2.2022)