Die EU setze auf "Soft Power", Putin kenne aber nur "harte Macht". Was die Union hinsichtlich Energiesicherheit tun könnte, wenn sie wollte, skizziert Daniel Gros vom Centre for European Policy Studies im Gastkommentar.

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Foto: AFP / Thibault Camus

Während die USA die Bemühungen zur Verhinderung eines russischen Einmarschs in der Ukraine anführen, ringen die Vertreter der Europäischen Union die Hände. Europa fehle nicht nur am Tisch, so beschweren sie sich; seine Sicherheit stünde auf der Speisekarte.

Doch ist die EU für den Umgang mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht gerüstet. Sie strebt danach, eine postmoderne "Soft Power" zu sein, und Putin kennt nur harte Macht. Und über welche Soft-Power-Instrumente auch immer die EU verfügt: Sie kann nicht einmal versuchen, sie einzusetzen, denn sie ist noch immer vom russischen Gas abhängig, um Licht und Heizungen der Europäerinnen und Europäer am Laufen zu halten.

Falscher Fokus

Die jüngst fertiggestellte Pipeline Nord Stream 2 hat als diplomatische Verhandlungsmasse beträchtliche Aufmerksamkeit erregt. Während einige argumentieren, dass das Projekt Russland zu viel Macht über Europa verschafft hat, hoffen andere, dass die Drohung mit einem Verlust der noch nicht in Betrieb genommenen Pipeline Russland von einem Einmarsch in der Ukraine abhalten kann.

In diesen Diskussionen richtet sich der Fokus zu oft auf die angeblich von Deutschland, dem wichtigsten europäischen Fürsprecher des Projekts, getragene Verantwortung. Doch ergibt dies angesichts der stetigen Integration der nationalen europäischen Gasmärkte wenig Sinn. In einem integrierten Markt sollte jede Maßnahme auf EU-Ebene erfolgen. Zudem ist es bei den Überlegungen über die zu treffenden Maßnahmen wichtig, sich bewusstzumachen, dass Nord Stream 2 nicht annähernd so bedeutsam ist wie häufig dargestellt. Langfristig wird die Pipeline kaum Auswirkungen auf die Sicherheit der europäischen Energieversorgung haben.

Transport per Schiff

Zunächst einmal ist es unwahrscheinlich, dass Nord Stream 2 nach ihrer Inbetriebnahme zu einer deutlichen Erhöhung der russischen Erdgasimporte nach Europa führen wird. Sie wird Russland lediglich in die Lage versetzen, seine Nutzung der durch die Ukraine führenden Erdgasleitungen zu reduzieren und so die Transitgebühren zu senken, die einen wichtigen Teil des Haushalts der Ukraine ausmachen.

Die Bedeutung strategischer Gasleitungen wird durch eine andere Umstellung untergraben. Es wird weltweit inzwischen mehr Gas per Schiff von einer Region in die andere transportiert als per Pipeline. Der Transport von Kohlenwasserstoffen in Form von Flüssigerdgas (LNG) hat an Beliebtheit gewonnen, weil, sobald das Gas in einem Spezialtanker gelagert ist, die Entfernung, die dieser zurücklegen muss, relativ egal ist. Infolgedessen korrelieren die Preise in Europa und Asien in normalen Zeiten stark miteinander. Die Transportkosten für LNG bleiben höher als die für Öl, und die Liquidität des LNG-Markts – und damit seine Fähigkeit, auf kurzfristige Nachfrageschwankungen zu reagieren – bleibt begrenzt. Doch der Trend hin zu einem integrierten Weltmarkt ist eindeutig.

Für den größten Teil Europas ist russisches Gas heute noch immer etwas billiger. Doch der politische Preis der Abhängigkeit – Russland bleibt größter Erdgasgaslieferant der EU – ist inzwischen nicht mehr hinnehmbar.

Was tun?

Wie also kann sich die EU gegen das kurzfristige Risiko absichern, dass Russland aus politischen Gründen Lieferungen zurückhält, und sich sogar so aufstellen, dass sie den russischen Gassektor mit Sanktionen belegen kann?

Ein erster, einfacher Schritt bestünde darin, die Gaslieferanten zu verpflichten, ihre Lagerbestände zum Ende des Sommers aufzufüllen. Dies wäre zwar nicht in deren wirtschaftlichem Interesse, doch würde es die Sicherheit der europäischen Energieversorgung erhöhen. Besondere Aufmerksamkeit wäre dabei den von der russischen Gazprom gehaltenen Lagereinrichtungen zu widmen, die im vergangenen Jahr weniger stark aufgefüllt wurden als andere gewerbliche Lagerstandorte, was die EU in diesem Winter anfällig für akute Verknappungen machte.

Strategische Reserve

Doch ist mehr erforderlich. Europa sollte zudem eine europäische strategische Gasreserve (ESGR) anlegen, die ausreichende Vorräte für den Verbrauch von etwa drei Monaten umfasst. Eine ESGR lässt sich nicht über Nacht anlegen und würde einige anfängliche Investitionen erfordern. Doch ließe sich innerhalb weniger Jahre ein beträchtlicher Gasvorrat anlegen, und die Kosten wären, insbesondere in Zeiten ultraniedriger Zinsen, nicht allzu hoch. Schätzungen auf Basis der bestehenden Gasreserven legen nahe, dass die Einrichtung einer ESGR etwa zehn Milliarden Euro kosten würde. Bei einer Tilgung über zehn Jahre wäre das eine Milliarde Euro pro Jahr – was etwa 0,5 Prozent des EU-Haushalts entspricht und eindeutig bezahlbar wäre.

Auch die Ukraine würde von einer ESGR profitieren. Schon jetzt kann das Land über die Bruderschaft-Pipeline, die normalerweise Gas aus Russland nach Europa befördert, dank der Rückstromfähigkeit der Pipeline Gas aus Europa erhalten. Ohne eigene Reserven jedoch kann die EU nicht viel für die Ukraine tun, wenn Russland seine Drohungen wiederholt, die Gaslieferungen an die Ukraine einzustellen.

Offene Inbetriebnahme

Bei Erteilung einer Betriebsgenehmigung für Nord Stream 2 – eine Option, die nur in Betracht gezogen werden sollte, wenn ein Angriff auf die Ukraine unterbleibt – würde zugleich Russlands Abhängigkeit von Europa als zuverlässigem Kunden zunehmen. Russland könnte diese Abhängigkeit nur verringern, indem es kostspielige Einrichtungen zum Export von LNG dichter an seinen Gasfeldern in der Nähe des Polarkreises errichtet oder indem es in eine sogar noch teurere Pipeline nach China investiert.

Die Krise in der Ukraine hat gezeigt, dass die EU trotz allen Geredes über eine "strategische Autonomie" stark von den Sicherheitsgarantien der USA abhängig bleibt. Das wird sich so schnell nicht ändern. Doch indem es die Sicherheit seiner Energieversorgung erhöht, kann Europa zumindest seine Fähigkeit zum Einsatz der wenigen ihm zur Verfügung stehenden Soft-Power-Instrumente steigern. (Daniel Gros, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 12.2.2022)