Im Da Lucio werden Meeresfische in großen Kühlschränken zum Reifen aufgehängt.

Foto: Georges Desrues

Rimini kennt man in erster Linie als Sommerbadeort mit endlosen Stränden, dicht belegt mit Teutonen. Und außerdem als ikonische Heimatstadt Federico Fellinis. Viel weniger bekannt ist indessen, dass hier auch der größte Fischereihafen an der Oberen Adria beheimatet ist.

Dabei reicht ein Besuch in der – zugegeben recht gut versteckten – Markthalle, um sich ein Bild davon zu machen, welche für adriatische Verhältnisse schier unglaublichen Mengen an Meerestier hier angeboten werden. "Und das auch noch zu vergleichsweise günstigen Preisen", sagt Jacopo Ticchi, während er an einem eiskalten Wintermorgen zeitig in der Früh, die Wollmütze auf dem Kopf und die Hände in den Manteltaschen, durch die Stände schlendert.

Der Tagesfang wird begutachtet, Händler werden begrüßt. Bei drei gewaltigen Steinbutten, ein jeder davon über vier Kilogramm, bleibt der Koch und Wirt stehen, inspiziert sie und handelt einen Preis aus. Später werden sie ihm, so wie alles andere, was er am Fischmarkt kauft, ins Restaurant geliefert.

Weite Anreise

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Der Steinbutt zählt zu den Plattfischen und lebt im küstennahen Gewässer. Sein Fleisch eignet sich besonders gut fürs Dry Aging.
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Jacopo Ticchi zählt zu den bekanntesten jungen Köchen Italiens und sein Da Lucio zu den angesagtesten Restaurants im ganzen Land. Was dieses zu einer weiteren Überraschung macht, mit der Rimini aufwarten kann. Fast zwei Kilometer sind es immerhin vom Fischmarkt im Stadtzentrum bis zu den Bettenburgen am Strand, wo auch das Da Lucio liegt.

Und auch das überrascht: Ausgerechnet hier, in der vom Strand aus gesehen so genannten zweiten Reihe, der winterlich verschlafenen touristischen Einkaufs- und Vergnügungsstraße, zwischen Ständen mit Kebab und Pizzaecken, Spielhallen und Souvenirshops, findet sich das wohl spannendste und ungewöhnlichste Fischlokal Italiens.

"Touristen gibt’s kaum unter unseren Gästen – also ich meine im Sommer. Jetzt im Winter sind sowieso keine da. Und die Einheimischen scheinen auch nicht überzeugt, von denen kommen nur sehr wenige her", sagt Ticchi und muss dabei lächeln. Denn ausgebucht ist das Lokal auch an diesem Abend wieder. Und zwar mit Gästen, die aus allen Ecken Italiens und immer öfter auch aus dem Ausland anreisen, um im Da Lucio zu essen.

Dry Aging

Doch was macht das Lokal so anziehend? Aufschluss geben zwei mächtige Kühlschränke mit Glastüren, die mitten im Lokal stehen. Und in denen einige große und noch größere Fische hängen, aus denen bisweilen das eine oder andere Stück herausgeschnitten wurde. Denn das Da Lucio gilt als das erste Restaurant in Italien, das den Großteil seiner Fische nicht frisch, sondern gereift verarbeitet, also nach der trendigen Methode des Dry Aging, wie man es vom Rindfleisch kennt.

Laut Jacopo Ticchi eignet sich Gelbschwanzmakrele am besten für die Reifung.
Foto: Georges Desrues

"Von Josh Niland habe selbstverständlich auch ich mich inspirieren lassen. Sein Kochbuch war ein regelrechter Augenöffner und hat meinen Bezug zu Fisch und zu meiner Arbeit radikal verändert", sagt Ticchi. In der Tat war das 2019 erschienene The Whole Fish Cookbook des australischen Kochs ein internationaler Bestseller, der einen weltweiten Trend auslöste, indem er etliche Köche dazu bewog, Fisch nicht so frisch als möglich zu servieren, sondern auch mit Reifung zu experimentieren, eben so, als handle es sich um Rindfleisch.

Keine Zuchtfische

Allerdings sitzen nicht alle so nahe an der Quelle wie Ticchi. "Das Um und Auf ist freilich die Ausgangsqualität", betont der 27-Jährige, "und es braucht eher große Fische, mit kleinen funktioniert das kaum." Zuchtfische verwende er prinzipiell nicht. Zum einen, weil deren Muskelfleisch in der Regel nicht fest, nicht kompakt genug sei.

Und zum anderen, weil er unter Nachhaltigkeit etwas anderes verstehe. "So gut wie alle wirtschaftlich bedeutenden Zuchtfische, egal ob aus Salz- oder Süßwasser, sind Fleischfresser und müssen also mit wildgefangenen Fischen gefüttert werden. Was soll das für einen Sinn haben?", sagt Ticchi. Und stellt damit eine Frage, die man gerne an jene österreichischen Spitzenköche weiterleiten möchte, die im Namen falschverstandener Nachhaltigkeit konsequent auf Meeresfisch verzichten und stattdessen nur heimischen Zuchtfisch anbieten.

Aber auch mit Steinbutt erzielt er gute Ergebnisse.
Foto: Georges Desrues

Ticchi jedenfalls setzt ausschließlich auf Fang, der in der (von Österreich gar nicht so weit entfernten) Oberen Adria von kleinen Booten aus mit zugelassenen Methoden und nach geltenden Quoten gefischt wird. Und unter diesen auf die größeren Arten und Exemplare. Darunter besagte Steinbutte, aber auch Blauflossen- und Langflossenthunfische, Gelbschwanzmakrelen, Schwertfische, imposante Wolfs- oder Zackenbarsche, Gold- oder Zahnbrassen.

Entscheidend sei das richtige Verhältnis zwischen Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Zeit. "Wie lange man sie reifen lassen soll beziehungsweise kann, hängt von Spezies und Größe ab. Kurz gefasst geht es darum, Aromen und Konsistenz zu komprimieren, indem man den Wassergehalt reduziert, ohne dass das Fleisch zu trocken wird", sagt der Koch, während er ein Brett zu Tisch bringt, auf dem unterschiedliche Fischteile liegen, jedes einzelne mit einem Kärtchen versehen, das die Art und die Reifedauer angibt.

Fette Beute

Fettgehalt spiele dabei freilich auch eine bedeutende Rolle, denn je fetter er sei, desto länger könne der Fisch reifen. "Das Fett bremst das Austrocknen", betont der Koch, "manche Arten schaffen auch zwanzig Tage, aber wir wollen hier ja nicht mit Rekorden angeben, vielmehr geht es uns darum zu verstehen, welches die ideale Reifedauer für jedes einzelne Exemplar ist."

Um das herauszufinden, geht der Koch zu einem Teil empirisch, also durch Ausprobieren, vor. Und zum anderen, indem er sich von einem amtlich zugelassenen Labor beraten lässt, das sich mit mikrobieller Aktivität, pH-Wert, Histamin und Ähnlichem beschäftigt.

"Die Gelbschwanzmakrele (ital: "ricciola") ist nach meiner Erfahrung vermutlich jener Fisch, der sich für die Reifung am besten eignet, weil er viel festes Muskelfleisch hat und kaum austrocknet", sagt Ticchi, "der Steinbutt ist freilich auch super, aber doch um einiges delikater." Generell sei der Winter die bessere Zeit, um die Fische zu reifen, da ihr Fleisch in der kalten Jahreszeit mehr Fett enthalte.

In seinem Restaurant Da Lucio kommen frische und gereifte Meerestiere auf den Tisch – zum Beispiel als gemischter Antipasti-Teller.
Foto: Georges Desrues

Und so ist das gemischte "Sashimi", das an diesem inzwischen sonnigen Jännertag im Da Lucio als Antipasto gereicht wird, auch nichts Geringeres als eine Offenbarung. Da ist zum einen der Geschmack. Dank der Reifung hat jeder einzelne Fisch äußerst komplexe, vielschichtige Aromen entwickelt, die im Mund eine regelrechte Explosion mit darauffolgendem Feuerwerk erzeugen. Vor allem aber ist da die Konsistenz, die von cremig bis knackig und bissfest alle Stückeln spielt. Und dennoch steht der absolute Höhepunkt noch aus.

Die Krönung

Zuvor kommt noch eine Batterie kleiner Teller und Schüsseln mit verschiedenartigen frischen (!) Schalentieren und diversen Innereien wie Fischbeuschel, -leber und -herz. Köpfe, Flossen und Backen können auf Anfrage bestellt werden. Auch das Verwerten von Abschnitten und vermeintlichen Abfällen ist freilich ein Trend, der zuerst in Fleischrestaurants unter der Devise "nose to tail" gehandhabt, vom Australier Niland und seinem Buch populär gemacht und von hippen Fischrestaurants übernommen wurde.

Danach wird dann als Krönung jenes Stück serviert, das man bereits zuvor am Brett ausgewählt hat. Und das der Koch über Holzkohlenglut grillt. In unserem Fall eine circa fünf Zentimeter hohe Tranche vom Zackenbarsch. Außen scharf angegrillt, wodurch nun die sensationelle Konsistenz und das umfassende Aromenspiel von charmanten Röstnoten umhüllt werden. Ein regelrechtes Erlebnis. Und obendrein ein unvergessliches für alle, die noch niemals gereiften Fisch hatten.

Pasta gibt es freilich auch. "Allerdings empfehlen wir, sie erst danach, vor der Nachspeise, zu bestellen", sagt der Koch, "weil wir wollen, dass der Fisch im Zentrum der Aufmerksamkeit steht." Der Primo als Ultimo sozusagen. Auch das etwas, das, genau wie nichtfrischer Fisch, in Rimini wie in ganz Italien so unüblich wie überraschend ist. Was vermutlich auch erklärt, warum bislang weder Touristen noch Einheimische ins Da Lucio kommen. Aber das wird sich wohl bald ändern. (Georges Desrues, RONDO, 5.3.2022)