Sven geht nächtens gern spazieren. Winters ist es am Polarkreis, wenn nicht gerade das Polarlicht leuchtet oder Mond und Milchstraße, gern reichlich finster. Sven quert seelenruhig die tief verschneite Fahrbahn, ich komme mit Tempo 65 die Linkskurve herein mit dem RS e-tron GT, habe vor dem Losfahren vorsichtshalber den Nachtsichtassistenten mit Wärmebildkamera aktiviert, da blinken einzelne LEDs hektisch auf, und das Markierungslicht hebt den einsamen Wandersmann deutlich wahrnehmbar hervor.

Ab 60 km/h aktiviert sich der Nachtsichtassistent mit Wärmebildkamera, hebt Fußgänger optisch hervor und gibt ebensolche Warnsignale.
Foto: Audi

Das beobachte ich halb aus dem Augenwinkel, die andere Hälfte meiner Aufmerksamkeit gehört Sven, der im echten Leben ein Pappkamerad ist und zu Demonstrationszwecken quer über die Straße gezogen wird. Die LED-Lichtrevolution und ihre Folgen: Ab 60 km/h klappt das geschilderte Szenario, im Alltag mag das durchaus in manchen Situationen ein erhebliches Sicherheitsplus für alle Beteiligten darstellen.

Polarkreisen mit dem Audi RS e-tron GT. Die Entwickler vieler Hersteller und
Zulieferer nützen extreme klimatische
Bedingungen für Abstimmungsarbeiten.
Foto: Audi

Doch da sind wir schon mittendrin in jenen zwei Tagen im und nahe dem schwedischen Arvidsjaur, an denen wir Audi beim Selbstfindungsprozess beobachten dürfen. Wer bin ich – und wenn ja: wie viele? Was vorher geschah. Draußen Prachtwinter mit knackigen Minusgraden, drinnen verbreiten knackende Holzscheit wohlige Wärme im Festdachtipi vor vereisten Seen, und die Audi-Mannen und -Damen stimmen uns ein auf die Fragestellung, was einen Audi zu einem Audi macht.

Gründervater August Horch (1868 bis 1951). Die von ihm latinisierte Namensversion kennt heute jede und jeder: Audi. Hätte er in die heutige Lingua Franca übersetzt, hieße die Firma Listen. Gut, dass seinerzeit noch klassische Bildung gefragt war.
Foto: August Horch Museum Zwickau

Klar kommen sie auf quattro, Lenkung, Leichtigkeit und Licht und Vorsprung, Inhalte und Hülsen, und in mir sinniert: ja, was eigentlich? Vielleicht zum Beispiel, Stichwort Audi = Horch: dass die dort besser die alte Kultursprache Latein lernen als ewig dieses Inselsächsisch. Gründervater August Horch – "Ich war unter allen Umständen bestrebt, nur starke und gute Wagen zu bauen" – haben sie jedenfalls gebührend gewürdigt mit jenen Elektrofahrzeugen, an denen die Exempla statuiert werden sollen: e-tron S (370 kW) und RS e-tron GT (475 kW) in diversen Konfigurationen.

Und auch, wenn das gar dick aufgetragen ist mit "wir bieten Euch Gelegenheit, mit den Entwicklern offen zu sprechen über deren heiligen Gral", spannend ist es allemal, ihnen einmal über die Schultern blicken zu können bei der Arbeit und sukzessiven Umsetzung ihres Programms, das sie im Koordinatensystem Balance, Handling, Leichtigkeit, Kontrollierbarkeit, Sensorvernetzung und Präzision absolvieren. Kurz gesagt: Es geht um markentypische Ausprägung von Fahreigenschaften unter Winterbedingungen.

Sommerprofil, Winterprofil – Schneeschuhe einmal anders, mit einem bestimmten Zweck: Schnallt man die an und begibt sich auf glattes Eis, weiß man sofort, warum Winterreifen in der kalten Jahreszeit gegenüber Sommerpneus von Vorteil sind.
Foto: Audi

Draußen auf blankem Eis, da schnallen wir uns erst einmal Schneeschuhe der anderen Art an die Füße. Haben sie aus jeweils Winter- und Sommerreifen herausgeschnitten, und es zeigt sich, was zu solchen Bedingungen besser passt – rutsch und brems, rutsch und brems, sehr anschaulich.

Annäherung im Kleinformat an das Streckenprofil der Nordschleife auf vereistem See.
Foto: Audi

Den Dynamikkurs auf meterdickem Eis haben die Schlingel ein klein wenig angelehnt an die Nürburgring-Nordschleife, wir tasten uns im dreikammerluftgefederten RS e-tron GT und mit spikebewehrten Reifen ran an das, was das Fahrzeug bereits serienmäßig der Meinung des Herstellers nach auditypisch leistet und nächsten Tages auch, was weiter in Entwicklung befindlich ist, der Prozess endet ja nie.

Beispiel: Im Slalom ist der Unterschied zwischen normaler und Allradlenkung auf solchem Untergrund augenscheinlich. Die von den Entwicklern herangeschafften, teilcamouflierten e-tron S, das zeigt sich nächsten Tages, lassen mehr Driftwinkel zu, auch geht es um die Feinabstimmung einer direkteren Lenkung, und die Experten stellen auch das gleich klar: Hier geht es nur um Softwareumfänge, nicht um Hardwareentwicklung. Einen Eiskreis mit 200 Meter Durchmesser haben sie zudem vorbereitet, auf dem einem im Wechsel zwischen aktiviert und deaktiviert klar wird, wie Audi die ESP-Abstimmung angeht und umsetzt.

Lichtrevolution LED: Mit Laser-Fernlicht lassen sich mittlerweile bis zu 600 Meter Fahrbahn ausleuchten – blendfrei für andere Verkehrsteilnehmerinnen und -nehmer.
Foto: Audi

Leuchtendes Beispiel

Carsten Funke ist Entwickler in Audis Licht-Abteilung. Die hecken dort unter anderem so was aus wie das obige Sven-Szenario. Vor allem aber, und das war der andere beeindruckende Punkt der Nachtfahrt, zeigt sich, welche gewaltigen Sprünge die LED-Technik in so wenigen Jahren gemacht hat. Audi war Pionier bei dieser Lichtrevolution, sie gilt folglich als Audi-typisch. Die ursprünglichen thermischen Probleme, erläutert Funke im Gespräch, habe man längst im Griff. Inzwischen kommen die bei Matrix LED mit dem Laser-Fernlicht, das sich bei 70 km/h aktiviert, auf bis zu 600 Meter Leuchtweite. Dass Sven oder sonst wer mit diesem Laserschwert geblendet werden könnte, dazu besteht keine Gefahr, denn Personen und Verkehrsteilnehmer werden konsequent aus dem Lichtkegel rausgenommen, das schreibt schon der Gesetzgeber vor.

Nächsten Tages sehen wir uns am Beispiel e-tron S an, was Audi aus drei E-Motoren macht. Beim S wandert ja die große Maschine, die im normalen e-tron hinten sitzt, nach vorn und die vordere nach hinten, sie redupliziert sich bei dem Prozess auf gar nicht so geheimnisvolle Weise: Je so eine sitzt dann nämlich links und rechts, was wiederum ermöglicht, das Thema quattro in die E-Ära fortzudenken: Torque Vectoring ohne viel Zusatzmasse. Die Hinterräder werden separat angesteuert, vorn helfen noch gezielte Bremseingriffe mit, da werden auch Nichtkönnerinnen zu Profis.

Der e-tron S auf dem Schanzentisch? Demonstriert eindrucksvoll, was aus dem Audi-typischen mechanischen quattro in Zeiten der Elektromobilität geworden ist. Ein E-Motor vorn, zwei hinten – ergibt: Torque Vectoring.
Foto: Audi

Die E-Mobilität eröffne ganz neue Möglichkeiten, kommentiert Chassis-Entwickler Carsten Jablonowski. Er hat ein Netzdiagramm mitgebracht, dessen Fragen während so einer Wintersaison im hohen Norden abgearbeitet werden. Mit acht, neun Leuten sei man monatelang beschäftigt, erproben, heim zu Audi nach Ingolstadt, wieder hoch, wieder runter, manchmal reiche die Zeit kaum aus. Punkt für Punkt nehme man sich nach subjektiven und objektiven Parametern vor, mit Popometer und Messgerät, "justiert wird ausschließlich bei der Software". 15 Testabläufe unter Winter- und 35 unter Hochgripbedingungen seien derzeit nötig, um einen Audi zu einem Audi zu machen. Die rechnergestützten Simulationsmöglichkeiten würden die Arbeit unterstützen, die reale Erprobung aber keinesfalls ersetzen.

Eckig? Nein danke

Konkretes Beispiel: Lenkung. Ich erinnere mich an meinen ersten Audi. Lenkung so leichtgängig, dass du sie mit dem kleinen Finger drehen konntest, Präzision: wie bitte? Auf Leichtgängigkeit legt Audi weiterhin Wert, längst fährt so ein Herr der vier Ringe aber genau dorthin, wo er soll. Entwicklungsziel in Schweden: zehn Prozent direktere Lenkung im e-tron S. Sie solle sich dabei gefühlvoll handhaben lassen und nicht eckig anfühlen. Ich verstehe, was er meint, und werfe die brutal direkte Auslegung des Alfa Romeo Stelvio zu dessen Marktstart in die Diskussion, genau, nickt Jablonowski, so was wolle man nicht.

Auf dem 200-Meter-Eiskreis lassen sich auch die Torque-Vectoring-Eigenschaften anschaulich erfahren. Feindosierung ist gefragt, sonst dreht man schnell sich ein.
Foto: Audi

Ab aufs Eis, erst auf den verkürzten Dynamikkurs, dann auf den Kreis. ESP an, aus, vom Komfort-Modus zu Dynamik. "Im Kreis bitte innen beginnen. Und jetzt Tempo." Der Popsch kommt raus, irgendwann endet der Drift in einem Dreher – "Gasgasgas!", brüllt der Herr Jablonowski, zu spät, ich bin vom Pedal gegangen. Passiert häufig, meint er, man solle aber ruhig Vertrauen haben in die Technik. Beim nächsten Versuch klappt es prima, wieder was gelernt zum Fahrverhalten des e-tron S und seiner fabelhaften Torque-Vectoring-Fähigkeiten, und ja, besonders am Handling-Parcours zeigt sich, dass die direktere Lenkung der Entwicklungsfahrzeuge noch ganz andere fahrdynamische Möglichkeiten eröffnen als bei den derzeitigen Serienfahrzeugen. Erstaunt nimmt man zur Kenntnis, wie leichtfüßig sich ein Mehralszweieinhalbtonner bewegen lässt, ist ja, wie die meisten E-Mobile, eine irre schwere Kuh – na ja, Elch passt besser hier in Schweden. Gudrun Glück, Audi-Sprecherin bei Porsche Austria und auf der Rückbank mit an Bord, ist nicht einmal grün geworden im Gesicht bei der Tour, aber das liegt weniger an meinem Fahrstil als an ihrer persönlichen Disposition: "Mir wird nie schlecht im Auto."

Mit Matrix LED lassen sich Straßen blendfrei ausleuchten, Laserlicht aktiviert sich ab 70 km/h und verdoppelt die Reichweite des Fernlichts – der Lichtkegel leuchtet mehrere Hundert Meter weit. Erstaunlich, was sich da getan hat in so kurzer Zeit.
Foto: Audi

Nach den programmatischen Fahrten zückt Jablonowski Schreibunterlage und Fragenkatalog, gemeinsam gehen wir ihn durch. ESP-Eingriff? Ja, war bei dem einen Manöver ausgeprägter, "würde ich auch sagen". Lenkeinschlag? Gering. Punkt für Punkt wird bewertet. Ein Life-Simulator, der plastisch zeigt, wie die Entwicklerinnen jeglichen Geschlechts dorten arbeiten, am Polarkreis. Was es aber Otto und Ottilie Normalklientel bringt, in einem Audi, der sich wie ein Audi verhält, zu sitzen? Das spielt sich wohl meist im Spannungsfeld zwischen Markenimage und psychologischer Hintergrundstrahlung ab. Ich könnte, wenn ich wollte.

Der Verbrenner hat eine Zukunft, er wärmt die Hände und die Herzen: Kanonenofen mit Audi-Ringen drin. Fünf in Reihe wären klassische Traditionspflege – damit ließe sich ebenfalls aufzeigen, was einen Audi zu einem Audi macht (und bald: einst gemacht hat).
Foto: Stockinger

Erkenntnisgesättigt stapfe ich am Tipi vorbei, ein paar Leute vom Veranstaltungsteam wärmen sich im Freien am offenen Feuer die Hände, es ist klirrend kalt heute, die Fotografen können einem leidtun, und wie ich genauer hinsehe, merke ich: Der Verbrennungsmotor hat eine Zukunft, der Kanonenofen mit brennenden Scheiten ist quasi ein Audi-Einzylinder, mit vier Ringen reingefräst. Jetzt müssten die nur fünf davon in Reihe nebeneinanderstellen, und die Episode, Audi-Entwicklern bei der Beantwortung der Frage nach den Genen zuzusehen – danach, was einen Audi ausmache –, fände den perfekten Abschluss. Erwärmend, herzerwärmend gar. Bis zum nächsten Winter dann, Sven! (Andreas Stockinger, 4.4.2022)