Michel Würthle oder die Kunst, ein Lokal zu führen: Wobei Michel nicht ganz korrekt ist, der gebürtige Österreicher heißt bürgerlich Michael, doch seit dem Französischunterricht mit fünf Jahren kommt er gut mit einem Vokal weniger aus. Und auch ein Lokal hat der 78-Jährige nicht geführt, es handelt sich eher um eine Institution, nämlich die Paris Bar in Berlin-Charlottenburg.

Bis heute ist Michel Würthle das Faktotum der Paris Bar in Berlin.
Foto: Jelka von Langen

So viele Menschen mit großen und kleinen Namen haben in dem Gastraum gesessen, Künstler, Schauspieler, Schriftsteller. Damien Hirst, Otto Sander, Markus Lüpertz und natürlich Martin Kippenberger, von dem ein Gemälde der Paris Bar einst in der Paris Bar hing. Sie gehörte lange zu den wenigen Orten in Berlin, von denen auch Menschen in New York, Los Angeles und London schon mal gehört hatten.

Zeitzeugnisse und Lebensanker

Jetzt, nach zwei Jahren Corona, sitzt Würthle in seiner Kreuzberger Altbauwohnung. Balkon zum Landwehrkanal, hohe Stuckdecken, Parkettfußboden, große Zimmer, die trotzdem klein wirken. Überall stehen Regale an der Wand, voller Bücher, Bilder, Postkarten, silberfarbene Koffer stapeln sich auf Schränken, an Türen hängen selbstgezeichnete Bilder und Collagen. "Meine eigentliche Leidenschaft", nennt er die Zeichnungen. Sie sind Kunstwerke, Zeitzeugnisse und Lebensanker in schwierigen Zeiten.

Einige dieser Bilder haben es in den roten Schuber geschafft, der neben Würthle auf dem Schreibtisch, ja was, steht, liegt, herumprotzt. In sechs Büchern hat er Fotos, Zeichnungen, selbstgeschriebene Speisekarten, Erinnerungen versammelt. Niemand nimmt das Wort Nachlass in den Mund, doch irgendwie scheint es das hier zu sein.

Michel Würthle hat Krebs, er hat eine Strahlentherapie hinter sich, muss nun wieder fit werden, "Dehnen, Strecken, ins Fitnessstudio gehen", er zeigt auf einen hässlichen Zweckbau auf der anderen Straßenseite, dabei war ihm früher Sport immer ein Graus.

Tracht und rosa Schal

Ein legendärer Ort, an dem auch Größen wie Damien Hirst, Madonna, Gina Lollobrigida oder Jack Nicholson einkehrten.
Foto: Jelka von Langen

Er erträgt sein Leben mit Fassung, geht durch das vollgestellte Wohnzimmer, eine getigerte Katze huscht übers Parkett, "Felix, ein richtiger Hooligan, der gräbt die Damen an, die zu Besuch kommen" – und brummt Diagnosen: "Leistenoperation okay, Krebs rückläufig".

Fragt man ihn nach seiner Lebenskraft, antwortet er: "Bis zum 75. Jahr regierte ein unbändiger Hunger. Danach, na ja ..." Die Erziehung des Zöglings Würthle begann spätestens im Wiener Café Hawelka. 16 Jahre jung, naiv, ging der junge Schüler auf den älteren Künstler Walter Pichler zu, den er sehr bewunderte. Ein seltsamer Dialog entspann sich.

Würthle sagte: "Sie kommen aus Tirol? Ich habe Verwandte dort." Pichler erwiderte: "So so." Und unterbrach den ungebetenen Gast an seinem Tisch höflich: "Ich nehme an, Sie wohnen hier in der Nähe. Warum gehen Sie nicht erst einmal nach Hause und ziehen sich um?" Würthle trug einen Trachtenjanker und eine rosafarbene Wollkrawatte. Pichler favorisierte englische Stoffe. Erste Lektion gelernt. Auf das Auftreten kommt es.

Sprachgewandtheit

Würthle zog die Kunst an, er studierte sie in Wien, brach ab und verdingte sich als professioneller Charmeur. Für Udo Proksch, den späteren Besitzer der Traditionskonditorei Demel, verkaufte er von Paris aus Fabriken, die Plastikteile herstellten. Würthles Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, Verhandlungen in die Länge zu ziehen und vielleicht auch in die Höhe zu treiben, mittels seiner Sprachgewandtheit.

Proksch landete Ende der 80er-Jahre im Zuge des Lucona-Skandals wegen mehrfachen Mordes im Gefängnis. Da hatten die beiden Männer aber schon seit knapp 20 Jahren nichts mehr miteinander zu tun.

Foto: Jelka von Langen

Beinahe übergangslos redet Würthle von Paris, drei Monaten Elfenbeinküste, Reisen zu griechischen Inseln, Rom und natürlich Berlin. Er korrigiert sich: "West-Berlin." Am Flughafen Tempelhof ist er am 3. Mai 1970 gelandet, er kann sich noch genau an das Datum erinnern, ein schöner Tag war’s, die ganzen Seen sah er beim Landeanflug ("Das kann gar nicht wahr sein, sind wir hier am Meer?"), dann holte ihn Oswald Wiener ab, befreundeter Schriftsteller aus Wien, und man ging erst mal in eine Eckkneipe.

"Großraum-Alkoholismus!" Nach sechs Jahren Frankreich, kleinen Bistros und engen Wohnungen, undurchschaubaren Regeln und teuren Abendessen gefiel dem 27-Jährigen sofort die Freiheit der unfreien, weil geteilten Stadt.

Aberwitziger Dialekt

Und dann noch diese Sprache oder: Diktion, wie Würthle sagt. Berlinerisch war ihm von den Geschichten Kästners vertraut und von den Zeichnungen Zilles, die sein Vater so mochte. "Der Dialekt kam uns aberwitzig vor. Wenn jemand ,icke‘ sagte, haben wir schon gelacht." Hat er diese Sprache nach 52 Jahren gemeistert? "In meinen Räuschen, ja."

"Wir waren vernarrt in den Freiraum, den wir hier hatten", erinnert sich Würthle. "Es war ein Eldorado. Man fühlte sich wie in Las Vegas, bevor es vom Gangster Bugsy Siegel erobert worden ist." Die Freunde gingen durch die Stadt, bewunderten die Bauhaus-Architektur, die sanften Steinwellen an der Fassade des Shell-Hauses ("so modern!"), die verwunschenen Industriegebäude, die bröckelnden Altbauten ("schäbig schön") und fühlten sich trotz Mauer keineswegs eingesperrt. Im Gegenteil. "Endlich musste man nicht mehr aufs Land fahren!"

Bowie und Kippenberger

Der aus Österreich stammende Michel Würthle an einem Tisch der legendären Paris Bar in Berlin, wo ihn das RONDO besuchte.
Foto: Jelka von Langen

Michel Würthles Erregung ist geradezu greifbar. Als Kind in Wien, diese ständigen Landpartien, wie langweilig! Als junger Mann in Paris, diese gelegentlichen Einladungen raus aus der Stadt, um einer Frau schnell nahekommen zu dürfen, wie spießig! Sex im Freien? "Bist deppert! Mit Auberge natürlich." In West-Berlin ging diese Ausflugsraserei nicht, drumherum riegelte die DDR jede Grenze ab. Nicht schlimm. Man konnte sich auf die wichtigen Dinge des Lebens konzentrieren: Ausgehen.

Nach einem Jahr merkten die Exil-Österreicher: Es fehlte etwas. Gutes Essen. Also gründeten sie 1971 ein Lokal am Olivaer Platz, verkauften es, öffneten ein Jahr später das "Exil" am Landwehrkanal, verkauften es, und Würthle übernahm 1979 die Paris Bar.

Alle Anlauforte waren legendäre Treffpunkte. Im ersten prügelte sich der junge Markus Lüpertz mit dem jungen Würthle, bis eine Schnapsrunde die lebenslange Freundschaft besiegelte. Am Kanal aß der schmalgesichtige und bereits weltbekannte David Bowie, wenn er Hunger auf vernünftiges Essen hatte. Und in der Paris Bar, na ja, wer kam nicht vorbei, wenn er in der Stadt weilte?

"Scheiß mit Reis"

Folgenreich war natürlich die Begegnung mit Martin Kippenberger, Mitte der 70er-Jahre im "Exil". Auftritt unbekannter Künstler: "Was gibt’s zum Essen?" Entgegnung grantiger Wirt: "Scheiß mit Reis." Widerworte des Malers: "Zum halben Preis." Das gefiel Michel Würthle.

Er pflegte fortan eine enge Freundschaft zum zehn Jahre jüngeren Mann, aus dem Jahre später ein umgarnter Malerstar und manchmal anstrengender Typ wurde. Martin durfte auch nachts um vier Uhr besoffen an der Tür vom Michel klingeln und wusste, ihm wurde nach einer Schimpftirade aufgetan.

"Ich sah in ihm einen wunderbaren Einzelgänger", sagt Würthle. "Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an ihn denke." Er erinnert sich, wie Kippenberger in einen Redefluss kam, "als wenn er in Zungen spräche".

Wie der Zuhörer nicht einordnen konnte, was der andere da brabbelte, erst Wochen später in den Werken Kippenbergers verstand, wozu diese Ausbrüche führten. Der Künstler verstarb 1997 an Leberkrebs, Michel Würthle trauert um seinen Freund bis heute. Was ihn besänftigt: "Seine Arbeiten sind frisch geblieben."

Foto: Jelka von Langen

Faktotum der Bar

So viele kamen aus Österreich, schauten beim Würthle vorbei. War die Paris Bar auch eine inoffizielle österreichiche Botschaft, Herr Würthle? "Fuck it!" Ein bejahender Kraftausdruck. "Hätten wir damals nur nie zugegeben." Da trafen sich der Konsul vor Ort und der Künstler auf der Flucht. Günter Brus hatte bei einem Vortrag 1968 an der Universität Wien "auf die österreichische Fahne geschissen", erzählt Würthle, und stand seitdem auf der Fahndungsliste des Landes.

"Meine Mutter war bei der Aktion als Zuschauerin dabei. Sie hat gesagt: Na ja, das war äußerst unappetitlich. Bitte, was soll man denn dazu sagen?" Brus tauchte in Berlin unter. "Ihm hat’s geholfen, er fand hier eine neue Ausdrucksform und wurde ein genialer Zeichner", sagt Würthle. Und verhalf ihm dank Kontakten in die Botschaft zu einem neuen Pass, mit dem der Zeichner wieder reisen konnte.

Die Bar selbst ging bereits vor einigen Jahren an neue Eigentümer über. Steuersachen, Insolvenz, "äußerst unappetitlich", würde wohl Würthles Mutter sagen. Am Ende setzte ihn noch der Insolvenzverwalter wieder als Maestro des Abends ein, bis heute ist er das Faktotum der Bar. Wenn er kann, schaut er vorbei, begrüßt die Gäste, wenn auch nicht mehr bis in die Puppen. Er steht ja inzwischen sogar vor zwölf Uhr mittags auf, es muss das Alter sein.

Wunderbare Manieren

"Ich bin gern ein Exil-Wiener", sagt Würthle über sein Berlin-Kapitel. Mal ein paar Tage an die Donau zu fahren, die Gerichte seiner Kindheit zu essen und wieder an den Landwehrkanal zurück. Nun erwischt er sich zum ersten Mal beim Gedanken, wegzuziehen. "Es ist nicht mehr so zärtlich wie früher", findet er. Es fehlt was, sagt er, kann es nicht genau benennen. Alte Weggefährten? Er zuckt mit den Schultern. "Ist doch alles wurscht!" Ein Satz, den er gern hinwirft, wenn das Thema für ihn erledigt ist.

Vor kurzem erschienen in einem Schuber mit sechs Bänden Fotos, Zeichnungen, selbstgeschriebene Speisekarten und Erinnerungen von Michel Würthle.
Vieles davon spielte sich hier in der Paris Bar ab. "Paris Bar Press Confidential". 75 Euro / 792 Seiten / 850 Abbildungen. Verlag Steidl
Foto: Verlag Steidl (Buchcover)

Manchmal braust er auch auf. "Was fragst du denn da?" Lächelt kurz darauf, versöhnlich, um Verzeihung bittend. "Ich konnte immer gute Manieren faken." Stimmt nicht. Er hat wunderbare Manieren.

Die Leidenschaft fürs Zeichnen begleitet ihn in allen Etappen, Egon Schiele und Alfred Kubin sind ihm Vorbilder, "auf Augenhöhe mit Vincent van Gogh", so urteilt er schelmisch über seine Fertigkeiten heute. Der eine Freund, Oswald Wiener, sagte einmal: "Lass die Kunst bleiben!" Der andere, Kippenberger, meinte: "Mach weiter!" Nun sind beide gestorben, Wiener zuletzt im November 2021, und Michel Würthle hat sich entschieden: Die Kunst muss an die Öffentlichkeit.

Demnächst wird er wieder einmal nach Wien reisen, zu einem Begräbnis. "Das sind die Veranstaltungen, auf die man in meinem Alter jetzt geht." Er regt sich ein wenig auf, spricht von "kakanischer Niedertracht", die ungeliebten Kinder zum Schluss doch an die Brust zu drücken. "Die Verehrung kommt nachher", er hält kurz inne, "das finde ich wichtig." Michel Würthle schmunzelt kurz und schaut durch seine Brille: "Schon allein, wenn ich an mich selbst denke." (Ulf Lippitz, RONDO, 3.4.2022)