Chronische Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten sowie depressive Verstimmungen sind häufige Symptome, die nach einer Covid-Erkrankung auftreten können. Die unter Long Covid zusammengefassten Langzeitfolgen betreffen dabei mehr als zehn bis 15 Prozent aller Infizierten. In manchen Fällen klagen Betroffene über Wochen, in einigen Fällen sogar über Monate hinaus über diese Symptome.

Sie treten nicht nur nach schweren Covid-Verläufen auf, bei denen neben der Lunge auch andere Organe betroffen sein können, sondern unter Umständen auch bei milden Verläufen. Grazer Forscher entwickeln nun für Long-Covid-Patienten eine neue digitale Hilfe, mit der sie in ihrem Genesungsprozess unterstützt werden sollen.

Die App baut dabei auf einem Programm auf, das bereits als aktivierendes Training für Demenzpatienten eingesetzt wird. Denn "dieselbe App, die älteren Menschen hilft, geistig fit zu bleiben, könnte in adaptierter Form auch Long-Covid-Betroffenen helfen", sagt Maria Fellner von digitAAL Life. Das Unternehmen ist ein Spin-off der Grazer Forschungseinrichtung Joanneum Research.

Smartphones sollen bald mehr können, als nur den individuellen Impfstatus anzuzeigen. Im Idealfall dienen sie als Orientierungshilfe für den Umgang mit Long-Covid-Erkrankungen.
Foto: Imago / Martin Wagner

Der Demenzhilfe entlehnt

Kernpunkt der Corona-App soll dabei – wie beim Demenztraining – ein multimodaler Ansatz sein. Schon seit 2015 arbeitet man bei Joanneum Research – Institut Digital in Graz an digitalen Unterstützungen für von Alzheimer betroffenen Menschen. Die Ausgangsidee ist jene: Auch wenn es noch keine kausalen Therapien – und damit auch keine Heilung – für die Alzheimer-Erkrankung gibt, so kann ihr Verlauf im frühen Stadium mit Bewegungs-, Gedächtnis- und Wahrnehmungsübungen dennoch positiv beeinflusst, sprich verlangsamt werden.

Dafür entwickelte das Team um Fellner gemeinsam mit der Med-Uni Graz und dem Roten Kreuz eine Tablet-App mit einem Trainingsprogramm, das alle Stückerln spielen soll. Probandinnen und Probanden können unter Anleitung von Betreuungspersonen oder auch allein 50-Minuten-Einheiten absolvieren, die unter anderem Bewegungsübungen und kognitive Herausforderungen wie Wissensfragen und Rechenaufgaben, Audiorätsel, Fehlersuchbilder und Lückentexte beinhalten.

Diagnose anhand der Blicke

Das Besondere daran: In der App ist ein Eye-Tracking-Modul integriert. Nach Auswertung der Augenbewegungen und anderer Trainingsparameter können Rückschlüsse auf den Schweregrad der Erkrankung gezogen werden. Damit kann einerseits der Schwierigkeitslevel der einzelnen Trainingseinheiten angepasst werden. Andererseits hilft es zu erkennen, ob Probandinnen und Probanden Übungsfortschritte erzielten.

Für die Long-Covid-Therapie, sagt Fellner, würde sich dieser multimodale Zugang, einschließlich des Eye-Tracking-Diagnose-Moduls, in einer angepassten Version ebenfalls gut eignen. Wie sich die App genau darstellen wird und welches Angebot optimal auf die Zielgruppe zugeschnitten ist, sollen eine Umfrage unter Expertinnen und Experten sowie eine Feldstudie zeigen.

Erleichterter Alltag

Prinzipiell ließen sich "mit Eye-Tracking aber auch andere neurodegenerative Erkrankungen als Demenz diagnostizieren", sagt Fellner. Und auch bei Long Covid ginge es darum, betroffene Menschen wieder körperlich und geistig umfassend zu reaktivieren. "Dazu müssen sie jetzt oft in Rehakliniken behandelt werden." Durch die neue Long-Covid-App könnten Patientinnen und Patienten auch zu Hause oder nach der Reha unterstützt werden.

Expertise für die Entwicklung der Long-Covid-App wird Fellner zufolge von mehreren Seiten einfließen. Einbringen werden sich dabei die Abteilung für Neurologie der Medizinischen Universität Graz, das Institut Digital von Joanneum Research und Probando, eine Rekrutierungsplattform für Teilnehmende an medizinischen Studien.

Maßgeschneiderte Reha

"Wir wollen das Angebot jedenfalls genau auf Bedürfnisse von Long-Covid-Patienten zuschneiden", sagt Fellner. Dafür ist neben der Adaption von physiotherapeutischen Bewegungsübungen unter anderem auch an eine Erweiterung des Trainingsprogramms um spezifische Atem- und Entspannungsübungen gedacht. Im ersten Schritt werden für die Adaption des bisher bestehenden Angebots Teilnehmerinnen und Teilnehmer für eine Online-Umfrage gesucht. Der Aufruf richtet sich an Betroffene, Angehörige wie auch alle, die beruflich mit Long-Covid-Patientinnen und -Patienten arbeiten. Das seien Ärztinnen und Ärzte, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen, Stationsleitungen oder Physiotherapeutinnen und -therapeuten wie auch andere medizinisch-technische Dienste.

Die Ergebnisse der Umfrage werden danach in eine Anforderungsanalyse für die Long-Covid-App gegossen. Im Herbst sollen die Feldtests starten. Gefördert wird das Projekt von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) im Rahmen des Programms "Fast Track Digital". Läuft alles nach Plan, sollte die neue Long-Covid-App im Anschluss an das Projekt eine Zulassung als medizintechnisches Produkt bekommen. "Das ist sportlich, aber schaffbar", sagt Fellner. Interessierte können bereits jetzt den derzeitigen Prototyp downloaden: digitaal.life/test. (Norbert Regitnig-Tillian, 12.4.2022)