Philosophin Lisz Hirn schreibt in ihrem Gastkommentar über die Rollenbilder, die ein Krieg hervorruft – auch und gerade jener in der Ukraine.

Innerhalb kürzester Zeit hat der russische Präsident Wladimir Putin geschafft, was vorher undenkbar schien: selbst diejenigen europäischen Staaten zu militarisieren, die den Krieg als politisches Mittel gänzlich ausgeschlossen hatten. Europa rüstet wieder auf. Gerade aber diese Entwicklung sollten wir im Auge behalten. Sonst könnte über Umwege passieren, was sich Putin und seine ideologischen Wegbereiter wünschen: die Aushebelung liberaler Werte.

Putin ist nicht der einzige Mann an einer Staatsspitze, der sich den Nimbus des "starken Führers" gibt. Mit dieser Pose punktet seinesgleichen aber nicht nur bei männlichen Wählern, sondern auch bei weiblichen. Manche erklären sich das mit dem Verlust von traditionellen Werten, denen mehrheitlich nachgetrauert wird, oder mit einem steigenden Ressentiment gegenüber Weltanschauungen, die traditionelle Bilder von Familie und Männlichkeit infrage stellen. All das mag zum Teil stimmen. Vor allem aber bedroht dieser "liberale" Lebensstil die Existenz "starker Männer" selbst, indem er deren autoritären Denk- und Verhaltensweisen aktiven Widerspruch und vor allem attraktivere Alternativen entgegensetzt.

Es gibt sie, die Frau als Soldatin: Diese Ukrainerin hat sich hinter einer Barrikade in der Stadt Odessa positioniert.
Foto: EPA / Sedat Suna

Dass sich ein wertkonservatives Land mit Atomwaffen ausgerechnet vor der sexuellen Diversität und Freiheit einiger westlicher Länder provoziert fühlt, ist also kein Zufall. In der Logik dieses autoritären Systems sind Gut und Böse, Freund und Feind, Frau und Mann klar zu unterscheiden. Wenn Moskaus Patriarch Kyrill den "heiligen" Krieg ausruft, um seine Gläubigen vor "Gay-Paraden" zu schützen, dann meint er das ernst. Diese Gläubigen hätten demnach "eine grundsätzliche Ablehnung der sogenannten Werte, die heute von denen angeboten werden, die die Weltmacht beanspruchen". Diejenigen, die diese Weltmacht beanspruchen, sind wir, der "Westen" unter der Führung der USA. Ein mythischer Kontinent, von dem man nicht weiß, wo genau er anfängt und wo er endet. Ein Raum also, in dem nicht nur Geschlechtergrenzen verschwimmen können. Weil, was ist, nicht sein darf, wird jetzt also Krieg geführt. Und uns diese kriegerischen Aggressionen als etwas völlig "Natürliches" verkauft.

"Wen soll der Held denn noch beschützen, wenn sie sich selbst verteidigen kann?"

Wenn das Kriegführen allerdings etwas so "Natürliches", gar etwas "Instinktives" wäre, dann stellt sich die Frage, warum sich so viele europäische Männer nur ein, zwei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg vollständig vom Konzept Krieg abgewandt haben. Warum sind viele nicht mehr bereit, sich zu opfern oder jemand anderen auf Befehl zu töten? Eine Erklärung für diese Kriegsunlust ist unsere Sozialisation. Erst wenn uns die Anwendung von Gewalt selbstverständlich scheint und uns als legitimes Mittel präsentiert wird, setzen wir sie selbst auch ein. Möglicherweise auch um andere zu töten. Die, die unaufhörlich einen "angeborenen Aggressionstrieb" beschwören, um damit fürchterlichste Gewaltausbrüche zu rechtfertigen, vergessen, dass ein und dieselbe Verhaltensweise sowohl produktiv als auch destruktiv genutzt werden könnte.

Heroische Soldaten

Der heroische Soldat, der am Schlachtfeld durch seine Tapferkeit brilliert und sich abschließend heldenhaft für sein Land opfert, könnte seine Energie auch für anderes einsetzen. Besser inszenieren lässt sich allerdings der heroische Soldat. So leicht er als Kriegspropaganda zu demaskieren ist, so schwer ist er als kollektive Fantasie zu entzaubern. Dass Männer im Krieg ebenso leiden und zu Opfern werden wie Frauen und Kinder, wird seit jeher ignoriert. Wir sind es gewohnt, dass jede Geschichte einen Helden braucht und jeder Krieg "richtige" Männer.

Doch was ist mit den "richtigen" Frauen? Generell scheinen kämpfende Frauen nur auf der Leinwand erwünscht zu sein. Zum einen, weil sie durch ihre bloße Anwesenheit das vorherrschende männliche Gewaltmonopol radikal aufbrechen, und zum anderen, weil sie die gewohnten Geschlechterbeziehungen außer Kraft setzen: Wen soll der Held denn noch beschützen, wenn sie sich selbst verteidigen kann? Allein an die Vorstellung, dass Frauen nicht mehr nur wehrlose, schutzsuchende und potenzielle Opfer von Gewalt sind, sondern als aktiv Kämpfende agieren, muss man sich gewöhnen.

Lange Zeit argumentierte man, dass Frauen aufgrund ihrer biologischen Disposition, möglicher Schwangerschaften, ihrer "mütterlichen" Gefühle nicht als Kämpferinnen oder für den Militärdienst taugen würden. Was früher noch als Argument durchgegangen wäre, kann man heute nicht mehr so stehen lassen: Verhütungsmittel, Frauenwahlrecht und gute Ausbildungen haben längst zu gleichberechtigteren Machtbeziehungen beigetragen.

Neuartige Waffensysteme

Zusätzlich verändern neuartige Waffensysteme die Ausübung von Gewalt und das Wesen kriegerischer Auseinandersetzungen. Es kommt längst nicht mehr nur auf die körperliche Stärke auf dem Schlachtfeld an. Egal ob aktiv im Militärdienst oder passiv in der Zivilgesellschaft: Weiterhin ausschließlich Männer zur Gewalt und zum Töten verpflichten zu wollen ist ebenso diskriminierend wie Frauen zum Gebären und zur Unterordnung. Es sind zwei Seiten einer Medaille, die an Europas dunkle Zeiten erinnert. Das bunte Europa sollte sich diese keinesfalls wieder von ewiggestrigen Kriegstreibern umhängen lassen. (Lisz Hirn, 22.4.2022)