Im Gastblog berichtet der Historiker Stefan Troebst über das grausame und blutige Vorgehen innerhalb der "Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation" (IMRO).

Unter den nationalrevolutionären Guerrilaformationen im Europa der Zwischenkriegszeit, welche sich die Revision der Versailler Nachkriegsordnung zum Ziel setzten, war die Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation (IMRO) mit Abstand die schlagkräftigste. Ihr Nahziel war der Anschluss des seit 1918 jugoslawischen Vardar-Makedoniens an Bulgarien, ihr Fernziel die Vereinigung sämtlicher Teile der historischen Landschaft Makedonien zu einem Großmakedonien – mit Saloniki als Hauptstadt. Von bulgarischem und albanischem Territorium aus bekämpfte die IMRO den neuen jugoslawischen Staat, indem sie in jedem Frühjahr mehr als eintausend ihrer uniformierten Kämpfer über die Grenze schickte. Im Südwesten Bulgariens, im Pirin-Gebirge, errichtete sie mit zähneknirschender Billigung der Regierungen in Sofia von 1922 an einen Staat im Staate mit separatem Steuer- und Justizwesen, eigenen Medien und Banken sowie einer eigenen Fraktion im bulgarischen Parlament. Ihr umfangreicher diplomatischer Apparat kooperierte mit der Türkei und Ungarn, schloss gar Bündnisse mit der neuen Sowjetunion und dem faschistischen Italien. Lediglich die Weimarer Republik verweigerte eine Zusammenarbeit, auch wenn etliche deutsche Politiker, Professoren, Diplomaten, Unternehmer und Journalisten glühende Sympathisanten der Organisation waren.

Ivan Michajlov alias "Radko Dejanov"

1927 kam es über der Frage der Taktik zu einem Spaltung in der Führung der IMRO: Der personalintensive Guerillakampf wurde jetzt durch die terroristische Taktik des Ansetzens von Dreier- und Fünfergruppen auf führende Repräsentanten Jugoslawiens, von Selbstmordattentätern auf Vertreter der neuen europäischen Nachkriegsordnung und von Auftragsmördern auf Dissidenten in den eigenen Reihen ersetzt. 1928 zerbrach die Organisation an diesem internen Konflikt in zwei sich erbittert bekämpfende Flügel. Treibende Kraft dieser neuen Entwicklungen war Ivan Michajlov (1896 bis 1990) alias "Radko Dejanov", der 1925 für den im Jahr zuvor ermordeten charismatischen IMRO-Führer Todor Aleksandrov in das dreiköpfige Zentralkomitee der Organisation aufgerückt war. Der Volksschullehrer und Offizier Aleksandrov, von Wilhelm II. 1916 mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, hatte die 1893 gegründete, für Autonomie Makedoniens unter dem Sultan kämpfende Organisation nach dem Ersten Weltkrieg gemeinsam mit dem bulgarischen General Aleksandăr Protogerov reorganisiert und auf den Kurs eines Anschlusses Makedoniens an Bulgarien gebracht.

Michajlov-Büste im Borisov-Park in Sofia.
Foto: Gemeinfrei

Michajlov nutzte seine Vertrauensstellung als Sekretär Aleksandrovs, um nach einem Mordkomplott gegen diesen dessen ZK-Sitz zu übernehmen. 1928 ordnete Michajlov dann den Mord an seinem ZK-Kollegen Protogerov an, installierte in der Folge zwei seiner engsten Vertrauten im Leitungsgremium und erlangte so die Kontrolle über die Organisation. Allerdings leisteten die Anhänger Protogerovs erbitterten Widerstand. Dies führte zu einem jahrelangen innerorganisatorischen Brudermord, dem mehrere tausend IMRO-Aktivisten beider rivalisierenden Flügel zum Opfer fielen. Bis heute bezeichnet im Bulgarischen der Begriff "makedonska rabota" – "etwas auf makedonische Art und Weise erledigen" – ein besonders grausames und blutiges Vorgehen.

1929 initiierte Michajlov eine strategische Wende der IMRO weg vom Ziel eines Anschlusses Makedoniens an Bulgarien und hin zu demjenigen eines "integralen und unabhängigen Makedonien" als "zweitem bulgarischen Staat auf dem Balkan". 1933 wurde der neue Kurs dann zur Organisationsdoktrin. Die Michajlov zufolge aus "makedonischen Bulgaren" bestehende Titularnation des zu gründenden Staates definierte er dabei als eine "bulgaro-makedonische", die in ethnokultureller wie sprachlicher Hinsicht bulgarisch, in regionaler hingegen makedonisch sei. Damit machte er sich die der IMRO gegenüber zuvor mehrheitlich positiv eingestellte politische Elite Bulgariens zum Feind. Die Folge war, dass eine sich 1934 in Sofia an die Macht putschende Militär- und Intellektuellengruppierung die bulgarische Armee gegen die die IMRO-Hochburg im Südwesten des Landes in Marsch setzte.

Binnen weniger Tage wurden die Strukturen der Organisation zerschlagen, ihre Führungsspitze interniert und die Mitglieder ihres Zentralkomitees zum Tode verurteilt. Dem überrumpelten Michajlov gelang es im Unterschied zum übrigen IMRO-Leitungskader, sich mehrere Monate lang im Lande zu verstecken und im September 1934 über die Grenze in die benachbarte Türkei zu fliehen. Kemal Atatürk, der aus Makedonien gebürtige Staatschef der neuen Türkei, gewährte Michajlov politisches Asyl – wohl um ihn gegebenenfalls gegen eine südslawische Hegemonie auf dem Balkan in Form einer Allianz Jugoslawiens mit Bulgarien instrumentalisieren zu können. Unmittelbar nach Michajlovs Flucht in die Türkei gelang der IMRO ihr größter terroristischer Coup: das Attentat von Marseille vom 9. Oktober 1934, dem der jugoslawische König Aleksandar I. Kardjordjević und der französische Außenminister Louis Barthou zum Opfer fielen. Der Einsatz des erprobten IMRO-Attentäters Vlado Černozemski ging auf die enge antijugoslawische Kooperation Michajlovs mit der kroatischen Ustaša-Bewegung Ante Pavelićs zurück.

Festhalten am Ziel eines "integralen und unabhängigen Makedonien"

Während der vier Jahre im türkischen Exil, in denen Michajlov zunächst im Norden Anatoliens, dann auf der Insel Büyük ada nahe Istanbul interniert war, versuchte er vergebens, ein Visum für die USA zu erhalten, wo die IMRO in Gestalt der "Macedonian Political Organizations in the United States and Canada" mit Hauptsitz in Fort Wayne, Indiana, über eine dichtes Unterstützernetz verfügte. 1938 gestattete schließlich Polen ihm die Einreise – unter der Auflage, sich jeglicher politischer Tätigkeit zu enthalten. Obwohl Michajlov in einer entlegenen Region Polens untergebracht wurde, konnte er, wie zuvor von der Türkei aus, engen Kontakt zu seinen Anhängern in Bulgarien und Nordamerika halten.

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Warschau offenbarte sich Michajlov im Herbst 1939 der Gestapo, welche ihn zu einem unbekannten Zeitpunkt ins Reich verbrachte. Dort nahm er vorübergehenden Wohnsitz in Berlin-Neukölln – in unmittelbarer Nachbarschaft zu Pavelić und seiner Entourage. Zu welchen NS-deutschen Stellen Michajlovs vom Rollbergviertel aus Kontakt hielt, ist nicht bekannt; die archivalische Hinterlassenschaft des "Dritten Reiches" enthält dazu kaum Informationen. Michajlov, der unbeirrt am Ziel eines "integralen und unabhängigen Makedonien" festhielt, nahm im Mai 1941 bereitwillig eine Einladung seines langjährigen Bündnispartners Pavelić an, der mittlerweile zum Oberhaupt ("Poglavnik") des deutsch-italienischen Marionettenstaates Kroatien avanciert war, zur Übersiedelung nach Zagreb an. Bis 1944 fungierte Michajlov als wichtigster außen- und militärpolitischer Berater von kroatischer Regierung und Ustaša, gar als rechte Hand Pavelićs.

Im Spätsommer 1944 erreichte Michajlov dann das Angebot des deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop, Staatschef eines unabhängigen Makedonien unter der Ägide des "Dritten Reiches" zu werden. Am 1. September 1944 hatte Hitler einen "Führerbefehl" zur sofortigen Ausrufung eines solchen Gebildes erlassen. Im Zuge des raschen Vorstoßes der Roten Armee auf den Balkan sollte damit der Rückzug der deutschen Heeresgruppe E aus Griechenland abgesichert werden. Michajlov behielt sich vor, seine endgültige Entscheidung zum deutschen Angebot erst nach einer Inspektionsreise nach Bulgarien und Makedonien zu treffen. Am 3. September 1944 brachte ihn ein deutsches Militärflugzeug von Zagreb nach Sofia, wo er mit seinen dort verbliebenen Anhängern die Lage beriet. Am 5. September telegrafierte Michajlovs Verbindungsmann zur SS, der Chef des Amtes VI im Reichssicherheitshauptamt, SS-Brigadeführer Walter Schellenberg, an Ribbentrop: "In einigen Besprechungen soll Michailoff heute und morgen noch versuchen, zu retten was zu retten ist. Situation scheint aber aussichtslos. Auch Michailoff steht auf diesem Standpunkt, nachdem er sich selbst von dem Stand der Dinge hat überzeugen können."

Die selbigentags erfolgte Kriegserklärung der UdSSR an Bulgarien, der dadurch unmittelbar bevorstehende Einmarsch sowjetischer Truppen in das Balkanland und damit deren Vorrücken bis an die deutsche Hauptverbindungslinie im Vardar-Tal führte zu einer dramatischen Zuspitzung der militärischen Lage. Ribbentrop drängte folglich gegenüber dem deutschen Gesandten in Sofia, SA-Obergruppenführer Adolf Heinz Beckerle: "Der Führer hat heute erneut angeordnet, dass die Ausrufung der Selbständigkeit Mazedoniens jetzt ohne weitere Verzögerung erfolgen soll."

Professor Giovanni aus Ungarn

Ebenfalls am 5. September reiste Michajlov von der bulgarischen Hauptstadt in einer deutschen Wagenkolonne ins makedonische Skopje, wo er am 6. September eine Reihe von Besprechungen mit IMRO-Aktivisten und örtlichen Honoratioren, aber auch mit Vertretern der kommunistischen Partisanen und der bürgerlichen anti-bulgarischen Widerstandsbewegung abhielt. Am Abend teilte er seine Entscheidung mit, welche das deutsche Generalkonsulat Skopje umgehend an die Botschaft Sofia kommunizierte: "Komitee hat sich durch Vantscho Michailov kategorisch geweigert, nach eingehender Prüfung unter den gegebenen Umständen Unabhängigkeitserklärung Mazedoniens auszurufen." Als Begründung führte Michajlov an: "1. Fehlt Anhängerschaft, die bereit sei, die Unabhängigkeit zu vertreten und sie durchzusetzen. 2. Unaufhaltsame fortschreitende Demoralisierung gesamter Bevölkerung." Während Hitler, Himmler und Ribbentrop über Michajlovs Weigerung wütend waren, nahm die Wehrmachtsführung die Verwaltung des jetzt von bulgarischen Besatzungstruppen entblößten Makedonien selbst in die Hand. Am 12. November 1944 verließen die letzten deutschen Einheiten Skopje in Richtung Prishtina, am Folgetag marschierten die Partisanen ein.

Michajlov wurde mit etlichen seiner Getreuen von der SS aus Skopje nach Wien evakuiert und im Frühjahr 1945 nach Altaussee im steirischen Salzkammergut gebracht. Im Unterschied zu den hier zahlreich anwesenden NS-Größen wurde er weder von den US-amerikanischen Truppen, die am 9. Mai 1945 das Städtchen erreichten, noch von der anschließend errichteten britischen Militärverwaltung behelligt – auch nicht als das neue Jugoslawien Josip Broz-Titos ein Auslieferungsgesuch stellte. Wo Michajlov die ersten Nachkriegsjahre verbrachte, ist unbekannt. 1948 konnte er dann seinen Wohnsitz in Italien nehmen, das er in den folgenden 42 Jahren nur noch zu Kuraufenthalten in Österreich und in der Bundesrepublik verließ. Seit 1958 lebte er, als "Professor Giovanni aus Ungarn", getarnt im römischen Stadtteil Monte Sacro, in der Via Ponza 6/7.

Michajlov-Grab bei Rom mit IMRO-Fahne und Nationalflagge der Republik Bulgarien.
Foto: Gemeinfrei

Am 5. September 1990 ist Michajlov im biblischen Alter von 94 Jahren in Rom friedlich entschlafen. Befragt kurz vor seinem Tod, ob die zahlreichen von ihm in Auftrag gegebenen Morde sein Gewissen belasteten, antwortete er, dass er solche Aufträge nur in einigen wenigen gravierenden Fällen von Hochverrat oder Veruntreuung von Organisationsgeldern sowie jeweils auf der Grundlage von juristisch korrekten Todesurteilen durch die IMRO-eigene Gerichtsbarkeit getan habe. "Ich musste sogar Todesurteile meiner eigenen Freunde unterschreiben", äußerte er selbstmitleidig im Gespräch mit dem bulgarischen Vatikanoffiziellen Archimandrit Giorgio Eldarov. Im Übrigen sei die IMRO eine "souveräne staatliche Struktur gewesen" und habe "wie andere Staaten auch gehandelt". Dass die Zahl der Todesurteile vergleichsweise hoch war, war Michajlov zufolge vor allem auf den Umstand zurückzuführen, "dass die Organisation über keine eigenen Gefängnisse zur Unterbringung von Verurteilten verfügte". (Stefan Troebst, 19.5.2022)