Was das Problem des Fachkräftemangels in der IT verstärkt: Gesucht werden hauptsächlich gut ausgebildete Personen mit hohem Wissensstand, am besten mit mehrjähriger Berufserfahrung und akademischem Abschluss. Auf mehreren Ebenen wird versucht, diesem Missstand zu begegnen.

Ab Herbst 2022 wird in den ersten drei Klassen der AHS und der Mittelschule das neue Pflichtfach Digitale Grundbildung unterrichtet werden. Auch Universitäten und FHs stocken ihr Angebot auf. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Universität Klagenfurt startet den Bachelorstudiengang Robotics & Artificial Intelligence, und an der FH Oberösterreich beginnt ab dem Wintersemester der Bachelorstudiengang Design of Digital Products.

Auch zahlreiche nichtakademische Ausbildungsinstitute sind mittlerweile auf dem Markt. Über deren Existenzberechtigung wird hitzig diskutiert. Doch Fakt ist, dass es viele Tätigkeiten gibt, für die nicht unbedingt eine Hochschulausbildung notwendig ist. Zum Beispiel müssen große Datenmengen bereinigt werden, bevor sie weiterverwendet werden können.

Um die Digitalisierung voranzutreiben, braucht es zigtausende Fachkräfte. Manche Personengruppen sind in diesem Sektor besonders unterrepräsentiert: Frauen, Arbeitslose und Personen mit neurodivergenter Veranlagung.
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"Der Fachkräftemangel wird nicht mit nur einer Initiative gelöst werden. Viele kleine Puzzleteile machen das Bild komplett", so Stefan Steinberger vom Bildungsinstitut Everyone Codes. Alfred Harl, Obmann des Fachverbands Unternehmensberatung, Buchhaltung und IT der Wirtschaftskammer Österreich, erwartet sich auf Bildungs- und Ministeriumsebene klare Abstimmungen und einen starken politischen Willen zur Veränderung und Zusammenarbeit, um den IT-Sektor in Österreich voranzubringen: "Es braucht kein warmes Lüfterl, sondern einen Paukenschlag."

In dem großen Hype um IT-Kräfte können Personengruppen übersehen werden, die weniger Zugangsmöglichkeiten aufgrund ihres Bildungsstands, Migrationshintergrunds oder genetischer Veranlagung haben. Auch Frauen sind im IT-Sektor unterrepräsentiert – nur rund 18 Prozent der Arbeitskräfte sind weiblich. Im Gespräch mit drei Initiativen werden die Potenziale dieser Zielgruppen sichtbar – für Unternehmen und sie selbst.

Arbeitssuchende programmieren

Stefan Steinberger, CEO des sozialen Unternehmens Everyone Codes

  • Umschulung arbeitsloser Menschen für Informatikberuf
  • Fünf bis 13 Monate Vollzeitausbildung in UX-Design, Software-Development oder Java Basic
  • 74 Prozent der Absolventen fanden einen Job

STANDARD: Wieso bildet Ihr Unternehmen speziell Arbeitssuchende ohne IT-Erfahrung aus?

Steinberger: Ich sah auf der einen Seite den Mangel an IT-Kräften und auf der anderen Seite motivierte Menschen ohne Arbeit. Meiner Ansicht nach wird die Chance, Arbeitskräfte zu einem IT-Beruf umzuschulen, noch zu wenig genutzt. Setzen wir als Gesellschaft nur auf die Ausbildung von Akademikern, gehen uns Personen mit großem Potenzial verloren.

STANDARD: Welche Schwierigkeiten treten nach der Umschulung bei dem Eintritt in den IT-Sektor auf?

Steinberger: Es werden hauptsächlich erfahrene Programmierer gesucht. Es gibt sehr wenige Trainee- oder Ausbildungsmöglichkeiten in den Unternehmen selbst. Deswegen unterstützen wir unsere Auszubildenden, die kein Studium oder eine HTL hinter sich haben, bei einem (Quer-)Einstieg in die Branche. Wir bringen Firmen und unsere Lehrlinge bei Gastvorträgen oder bei einem Businessfrühstück zusammen. Lernen die Personaler unsere Teilnehmenden kennen, brechen ihre Vorbehalte gegenüber nicht akademisch Ausgebildeten auf. Sie stellen fest: Die hohe Motivation, die Lernfähigkeit und ihre Kompetenzen zählen mehr als der Lebenslauf. Grundkenntnisse des Programmierens bekommen unsere Auszubildenden bei uns gelehrt. Die weiteren in den Firmen benötigten Tätigkeiten müssen dann sowieso erst erlernt werden.

Frauen an die Tastatur

Pia Gerhofer, Software-Entwicklerin und Obfrau des Vereins Female Coders

  • Verein zur Förderung von Frauen in der IT
  • Veranstaltet Events und zweiwöchentliche Treffen
  • Frauen werden ermutigt, in die Welt des Programmierens reinzuschnuppern – mit professioneller Unterstützung von Informatikerinnen

STANDARD: Wieso gibt es immer noch zu wenige Frauen im IT-Bereich?

Gerhofer: Das hängt meiner Meinung nach stark mit zwei Vorurteilen zusammen. Auf der einen Seite wird Mädchen noch heute in der Schule vermittelt, sie wären in mathematischen und technischen Fächern weniger begabt als Jungen. Das ist schlicht falsch – geistert aber noch in unseren Köpfen herum. Und zweitens denken viele: Kodieren ist nur etwas für Mathegenies. Aber auch das ist nicht richtig. Mit Rechnen hat Programmieren wenig zu tun. Mädchen schrecken somit gleich doppelt vor den Informatikfächern zurück. Und das aufgrund von zwei Fehlannahmen.

STANDARD: Was gefällt Ihnen am Programmieren besonders?

Gerhofer: Immer neuen Herausforderungen zu begegnen und daran zu wachsen. Es gibt immer Neues zu lernen. Programmieraufgaben sind wie kleine Rätsel. Sind sie geknackt, sieht man gleich das Resultat. Ein Zuckerl ist, dass die Jobs meistens auch sehr gut bezahlt sind. Und da es zu wenige Fachkräfte gibt, werden einem viele Vorteile zuteil. Zum Beispiel flexible Arbeitszeiten und -orte. Gerade für Frauen, die Care-Arbeit leisten, also Kinder betreuen, ist das ein großer Vorteil.

Vorsprung durch Abweichung

Anna Marton, CEO des Unternehmens Specialisterne Austria

  • Ausbildungsprogramme mit anschließender Jobvermittlung für neurodivergente Personen wie zum Beispiel Software-Testing, AI & Data-Assistant und Qualitätsmanagement und Coding-Basics
  • Pro Lehrgang zehn Personen, Dauer sechs bis zwölf Wochen
  • Über 15 Prozent der Bevölkerung in Österreich sind neurodivergent, das bedeutet, dem Gehirn zugeschriebene Funktionen sind bei diesen Personen anders, als es den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht; circa ein bis zwei Prozent davon haben eine autistische Veranlagung

STANDARD: Wieso sind neurodivergente Personen und speziell Menschen mit autistischer Veranlagung besonders gut für Informatikberufe geeignet?

Marton: Die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung funktionieren bei autistischen Menschen anders. Das Gehirn kann äußere Eindrücke schwer filtern. Am wohlsten fühlen sich autistische Personen deshalb bei Tätigkeiten mit klar definierten und sich wiederholenden Aufgaben und Strukturen. Dann ist es für diese Personen ein Leichtes, aus dem Muster fallende Formeln oder Daten zu entdecken. Bei der Fehlersuche in einem Softwaresystem oder bei der Aufbereitung großer Datenmengen ist das ein großer Vorteil.

STANDARD: Wie können sich Unternehmen verändern, damit mehr Menschen, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen, am Arbeitsmarkt teilhaben können?

Marton: Es ist wichtig, Tätigkeiten so aufzuteilen, dass sie für diese Personen überhaupt erst infrage kommen. Es hilft zum Beispiel, keinen Kundenkontakt zu haben, abgeschirmt von Geräuschen und grellem Licht zu sein und konkrete Tätigkeiten festzulegen. Eine klare Kommunikation ist dabei unumgänglich. Davon profitieren alle Mitarbeitenden. Es ist sinnvoll, diese Veränderungsprozesse im Unternehmen von Experten begleiten zu lassen. (Natascha Ickert, 20.5.2022)