Die Religionssoziologin Kristina Stöckl gibt im Gastblog Einblick in die Situation russischer Wissenschafterinnen und Wissenschafter vor und nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine.

Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat für in Österreich lebende Forscherinnen und Forscher mit Ukraine- und Russlandbezug alles verändert. "Ukraine- und Russlandbezug" formuliere ich hier ganz bewusst offen, denn egal ob Forscherinnen und Forscher aus der Ukraine oder aus Russland kommen und dort Familie haben oder ob sie sich mit den Ländern beschäftigen und wissenschaftliche Kontakte dorthin pflegen – der Krieg stellt alles infrage. Natürlich gilt die Zeitenwende in größtem Ausmaß für Ukrainerinnen und Ukrainer, deren Land einem brutalen Angriffskrieg ausgesetzt ist.

Viele Wissenschafterinnen und Wissenschafter sind aus der Ukraine geflohen, viele kämpfen in der ukrainischen Armee, Forschungsstätten wurden zerstört. Westliche Forschungseinrichtungen haben mit Solidarität auf die verzweifelte Lage ukrainischer Wissenschafterinnen und Wissenschafter reagiert und spezielle Programme aufgelegt, die zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein sind, die aber trotzdem ein wichtiges Zeichen gesetzt haben: Die ukrainische Wissenschaft und ukrainische Forscherinnen und Forscher sind Bestandteil des europäischen Wissenschaftsraums. Genau das Gegenteil passiert gerade mit Russland. Russland verlässt gerade den europäischen Wissenschaftsraum, und zwar in mehrerlei Hinsicht: praktisch, institutionell und ideologisch.

Es fließen keine Forschungsgelder mehr nach oder aus Russland, alle europäischen Forschungsförderungseinrichtungen haben ihre Zusammenarbeit mit den russischen Partnern eingestellt.
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Die praktischen Auswirkungen der von westlichen Staaten verhängten Sanktionen gegen Russland auf die Forschung betreffen in erster Linie Personen und Forschungskooperationen. Russische Forscherinnen und Forscher in Österreich finden sich ohne funktionierende Bankkonten und -karten wieder, Visa-Verlängerungen werden kompliziert, die Reisebeschränkungen machen es schwer beziehungsweise unmöglich, in die Heimat zu fliegen oder Besuch von dort zu empfangen.

Keine Forschungszusammenarbeit mehr

Es fließen keine Forschungsgelder mehr nach oder aus Russland, alle europäischen Forschungsförderungseinrichtungen haben ihre Zusammenarbeit mit den russischen Partnern eingestellt. Als Antwort darauf legten auch die russischen Universitäten offiziell ihre Forschungszusammenarbeit mit Einrichtungen im Westen auf Eis. Forschungskooperationen – vor allem in den technischen und naturwissenschaftlichen Fächern – standen auf einmal vor der Frage, ob das Erforschte denn "kriegsrelevant" sein könnte. Der Abbruch der Beziehungen ging sogar so weit, dass der Wissenschaftsfonds FWF eingereichte Anträge für Forschungsprojekte mit der Bitte zurückschickte, doch die dort aufgeführten russischen Partnerinstitutionen aus dem Antrag zu streichen. Der von russischer Seite erhobene Vorwurf, das alles sei Ausdruck von Russophobie, gilt nicht. Weiterzumachen, als sei nichts vorgefallen, ist keine Option. Alle namhaften russischen Forschungseinrichtungen und Universitäten haben gleich zu Beginn des Krieges eine Unterstützungserklärung für die "militärische Spezialoperation" unterzeichnet und ihre Loyalität mit der Regierung kundgetan; einzelne Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die im Gegenzug ihre Namen unter Petitionen gegen den Krieg setzen, müssen mit Verwarnungen und Nachteilen am Arbeitsplatz rechnen.

Russische Werte würden verunglimpft werden

Vor der Zäsur vom 24. Februar war wissenschaftliche Zusammenarbeit selbstverständlich. Das russische Wissenschaftsministerium hatte vor Jahren sogar die Parole ausgegeben, die russische Wissenschaft müsse sich professionalisieren und internationalisieren. Scopus (eine wissenschaftliche Zeitschriftendatenbank, in der internationale peer-reviewte Zeitschriften einem Ranking unterzogen werden) wurde der neue Goldstandard. Es wurde zunehmend schwieriger, Kolleginnen und Kollegen in Russland dafür zu motivieren, Beiträge für Sammelbände oder für Zeitschriften zu schreiben, die nicht in der Datenbank gelistet waren, denn nur Scopus versprach ihnen Prestige und Prämien. Umgekehrt wurden immer mehr wissenschaftliche Beiträge von russischen Forscherinnen und Forschern bei diesen Journals eingereicht, was wiederum bei den Anfragen für Peer-Reviews deutlich spürbar wurde. Man mag zu Zeitschriftenrankings stehen wie man will, es war dennoch erkennbar, dass der Raum produktiver Wissenschaft größer wurde, der Austausch verstetigt.

Mit den ersten Kriegstagen war es damit vorbei. Ich arbeite im Feld der Religionssoziologie, das ist im heutigen Russland ein hoch politisiertes, sensibles Thema. Weniger als eine Woche nach Kriegsbeginn tauchte auf einer obskuren Veteranenwebseite ein erster Artikel auf, dass sich die russische Wissenschaft schon viel zu lange den Standards des feindlichen Auslands ausgeliefert und angebiedert hätte. Es sei an der Zeit, damit Schluss zu machen. Und die Editorial Boards der in Russland herausgegeben Zeitschriften sollten auch ausgemistet werden, denn dort säßen ausländische Agenten, die mit ihrer Forschung die russischen Werte verunglimpften. Die russische Wissenschaft sollte fortan "nationalen Interessen" dienen. In Folge traten ich und andere Kolleginnen und Kollegen von unseren Funktionen in genau solchen Gremien zurück. Der Rücktritt sollte auch helfen, die russischen Kolleginnen und Kollegen aus der Schusslinie zu nehmen, sie vor der erwartbaren Anklage, sie seien doch selbst ob ihres täglichen Austauschs mit westlichen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern schon ausländische Agenten, zu schützen.

Kritische Wissenschaft in Russland nicht möglich

Auf der individuellen Ebene ist die Lage für einzelne Forscherinnen und Forscher in Russland prekär geworden. Wissenschaftszweige wie die Gender-Studies wurden bereits seit 2012 systematisch verhindert und verunglimpft. Ein Gesetzesentwurf sah 2019 vor, dass wissenschaftliche Austauschgespräche zwischen Russinnen beziehungsweise Russen und Ausländerinnen und Ausländern einem Sechs-Augen-Gebot folgen sollten – es sollte immer mindestens eine zusätzliche Person der russischen Partnerorganisation dabei sein. Seit der Ausweitung des Gesetzes gegen ausländische Agenten auf Individuen (vormals galt das Gesetz für NGOs und Medien) können Forscherinnen und Forscher für ihre Kontakte mit Personen und Einrichtungen im Ausland belangt werden.

Erst im Nachhinein sehe ich klarer, dass es sich hier um Vorarbeiten dafür handelte, was kommen sollte. Zumindest in meinem Fachgebiet war die Lage in den vergangenen zehn Jahren zutiefst paradox: Während die russische Regierung ein Gesetz nach dem anderen vorantrieb, das die öffentliche Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit im Namen traditioneller Werte und des Schutzes der öffentlichen Moral und Sicherheit einschränkten, diskutierte russische und westliche Kolleginnen und Kollegen in Seminaren und publizierten (auf Russisch in Russland) über eben diese traditionellen Werte als Propagandainstrument. Wir sahen uns als Teil einer kritischen wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Allein schon die Tatsache, dass diese kritische Öffentlichkeit stattfand, erschien uns ermutigend. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, begleitet von Putins Reden gegen "Verräter" und "Fliegen, die man ausspucken werde", haben die harte Wirklichkeit sichtbar werden lassen: Eine kritische Wissenschaft ist in Russland nicht mehr möglich, und sie war vielleicht auch in den letzten Jahren schon nur mehr ein Feigenblatt der Respektabilität.

Viele russische Kolleginnen und Kollegen haben Russland in den vergangenen Monaten verlassen. Ihre Lage wird in Europa immer schwieriger, weil ihre Touristenvisa nach und nach auslaufen und Stellen für Forscherinnen und Forscher ohnehin dünn gesät sind. Die aktuellen Hilfsprogramme für Forscherinnen und Forscher aus der Ukraine priorisieren zu Recht die direkten Opfer des Kriegs. Es wird allerdings zunehmend drängender, auch an die indirekten Opfer dieses Kriegs zu denken, die russische liberale Zivilgesellschaft und jene Teile der russischen Wissenschaft, die sich bisher demokratisch engagiert haben und die Wissenschaft in aufklärerischer gesellschaftlicher Verantwortung sehen. (Kristina Stöckl, 15.6.2022)