Auch am 26. August 2020 wurde Nina Baginskaja beim Demonstrieren festgenommen und ihr die Fahne entrissen. Das hält sie nicht davon ab, weiter gegen Alexander Lukaschenko zu protestieren.

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Hunderttausende sind auf den Straßen der belarussischen Hauptstadt Minsk. Plötzlich Rufe: "Nina, Nina!" Nina Baginskaja ist da, mit ihrer großen weiß-rot-weißen Fahne. Die über 70-Jährige ist Ikone, Vorbild. Alle wollen mit Nina reden, ihre Hand berühren – sie verehren sie für ihren Mut.

Das war vor genau zwei Jahren. Nach der grotesk manipulierten Präsidentschaftswahl am 9. August 2020 erklärte sich Machthaber Alexander Lukaschenko zum Sieger. In der Folge gehen Hunderttausende auf die Straße und demonstrieren gegen Lukaschenko. Nina Baginskaja ist auf fast jeder Demonstration mit dabei, zumeist in der vordersten Reihe schwenkt sie ihre Fahne. Dann beginnt das immer gleiche Ritual. Die Polizisten entreißen ihr die Fahne. Sie wird festgenommen, einmal im Gefangenentransporter um den Block gefahren und wieder freigelassen.

Eine Fahne als Geschenk

Baginskaja geht nach Hause, setzt sich an die Nähmaschine und näht die nächste Fahne, für die nächste Demo. Und beginnt zu erzählen. "Seit der Wahl vom 9. August ist dies meine achte Fahne. Ich verstehe die jungen Leute. Für sie ist es gut, dass ältere Leute sie unterstützen. Speziell Menschen wie ich, die die Geburt der Nation erlebt haben." Nina Baginskaja ohne Fahne, das ist undenkbar. "Einmal marschierte ich ohne Fahne", sagt sie, während sie den Stoff zuschneidet, "da kam ein junger Mann und sagte: Hier ist ein Geschenk. Und hat mir als Geschenk eine Fahne auf meine Schulter gelegt."

Nina Baginskaja war schon zu Sowjetzeiten in der Opposition. Später, 2014, verbrennt sie vor dem KGB-Gebäude eine sowjetische Flagge, um an die stalinistische Unterdrückung belarussischer Kulturschaffender zu erinnern. Sie wird verurteilt, wegen "Rowdytums" und "Ungehorsam gegenüber Polizisten".

Hilfe wird abgelehnt

Doch die Geldstrafen, die man ihr auferlegt, zahlt sie einfach nicht, sie hält sie für nicht legitim. Pfändungen folgen, ihre Pension wird gekürzt. Das nimmt sie in Kauf, finanzielle Hilfe, etwa durch Menschenrechtsorganisationen oder aus dem Ausland, lehnt sie ab.

Jetzt im Sommer fährt Nina Baginskaja gerne auf ihre Datscha, eine kleine Holzhütte mit gepflegtem Obst- und Gemüsegarten etwas außerhalb von Minsk. Besuchern erklärt sie jeden Baum, jede Pflanze, jeden Strauch. Lässt sie von ihren köstlichen alten Apfelsorten probieren. Damals, vor zwei Jahren, war die Belarussin noch voller Hoffnung: "Wir werden uns selbst befreien. Da gibt es Beispiele aus anderen Ländern. Wir sind nicht die Ersten und nicht die Letzten, die in einer Diktatur leben. Wir werden frei sein. Nichts ist auf ewig in dieser Welt. Wir werden Erfolg haben."

Nina Baginskajas Hoffnung hat sich bislang nicht erfüllt. Alexander Lukaschenkos Regime hat die meisten Oppositionellen ins Ausland vertrieben, fast alle übrigen sitzen im Gefängnis. Swetlana Tichanowskaja, die Galionsfigur der Opposition im Exil, setzt auf Widerstand gegen eine mögliche Beteiligung ihres Landes an Russlands Krieg gegen die Ukraine.

Störung des Bahnbetriebs

"Unsere Partisanenbewegung wird das sabotieren. Es werden Befehle verweigert werden." Tichanowskaja zitiert Umfragen, nach denen 86 Prozent der Bevölkerung gegen den Krieg sind.

Seit Beginn der "Spezialoperation" rollen russische Militärzüge durchs Land und bringen Nachschub. Selbsternannte "Cyberpartisanen" stören durch Hackerangriffe den Bahnbetrieb. "Jede Störung der Bahn-Software führt zu einer Störung des Fahrplans", zitiert das Onlinemedium Meduza einen ehemaligen Bahnmitarbeiter. "Damit wollten wir demonstrieren, dass die Belarussen mit der Präsenz der russischen Armee in ihrem Land nicht einverstanden sind", ergänzt Juliana Schmetowez, die Sprecherin der Cyberpartisanen.

Todesstrafe droht

Andere Oppositionelle manipulieren Signalanlagen oder setzen Relaisschränke außer Betrieb. Das Ziel: die Störung des russischen Nachschubs an die Front. Für die Behörden sind dies "Terroranschläge". Schon für den Versuch steht darauf als Höchststrafe die Todesstrafe. Bis Mitte Juni wurden mindestens elf Menschen wegen "Terroranschlägen" festgenommen, weiß die Menschenrechtsorganisation Wjasna.

Nina Baginskaja will weiter gegen Lukaschenko demonstrieren, auch wenn sie mit Sabotage nichts am Hut hat. Sie ist mit ihrer Fahne auf den Straßen von Minsk unterwegs. Ganz allein, als eine der letzten Demonstrantinnen im Land.

Anfang Mai wurde sie erneut festgenommen und in die Psychiatrie gebracht. "Ich musste unterschreiben, dass ich keine Behandlung brauche, dass ich ein psychisch gesunder Mensch bin", erzählt sie. "Wenn du kein Sklave bist, musst du dein Land, deine Heimat verteidigen." (Jo Angerer aus Moskau, 9.8.2022)