Rory Burke aus Leeds nahm am Donnerstag gerade am Esstisch seiner südlich von London lebenden Eltern Platz, als die Todesnachricht aus Balmoral eintraf. 16 Stunden später kann es der Personalberater noch immer nicht recht glauben. "Sie war doch immer schon da", reflektiert der 51-Jährige. "Sie war die Person, die uns Halt gab. Anders als bei Politikern glaubte ich, was sie sagte."

Wie zunächst Hunderte, später Zehntausende seiner Landsleute ist Burke an diesem Freitag zum Buckingham-Palast in der Londoner Innenstadt gekommen. Er hat Blumen dabei, wie viele Hundert andere auch. Die werde er jetzt niederlegen und ein paar Worte des Gebets sagen, "für die Queen und für ihre Familie".

Großer Andrang vor dem Buckingham-Palast.
Foto: Reuters / Kevin Coombs

Dass ein Mensch im 97. Jahr in seiner allerletzten Lebensphase steht, wussten die Briten natürlich ebenso gut wie andere. Wider alle Vernunft aber glaubten sie, ihre Queen würde "einfach immer weitermachen" – so drückt es Charlotte Baker aus. Die 29-jährige Londonerin ist mit ihrer fünf Monate alten Tochter Matilda zum Palast gekommen. Ihre Eltern leben in Wales, "sonst wären die auch schon da. Stattdessen sind wir beide jetzt die Repräsentanten der Familie." Baker war es wichtig, zu kommen, so wie sie auch schon bei den Jubiläumsfeiern im Juni vor dem Palast stand. Mit Blick auf ihr Baby sagt sie: "Mir war wichtig, dass sie später sagen kann: 'Ich war dabei.' Eine Queen wird es sehr lange nicht mehr geben." Tatsächlich stehen auf Platz eins und zwei der Thronfolge nun die Prinzen William (40) und George (9).

Keine Proms

Die Postbediensteten haben ihren Warnstreik beendet, die Eisenbahner den ihren für kommende Woche abgesagt. Die öffentlich-rechtliche BBC hat nicht nur ihr gesamtes Programm auf die Trauerfeierlichkeiten zugeschnitten; noch am Donnerstag wurde zudem das klassische Musikfestival Proms mit der für Samstag geplanten Last Night of the Proms abgesagt. Das Cricket-Spiel Englands gegen Südafrika fällt an diesem Wochenende ebenso aus wie Fußballspiele der Premier League.

Alle wollen den neuen König Charles III sehen. An den Gedanken, dass er nun das Land führt, muss man sich dennoch gewöhnen.
Foto: AP / Yui Mok

Und die Briten strömen zu Tausenden zu den Königspalästen, vor allem natürlich zum Buckingham-Palast in der Hauptstadt London. Sie wollen "einfach nur Danke sagen", wie Rory Burke glaubt, sie wollen Gemeinschaft erleben und Teil eines historischen Ereignisses sein. Bei der Windsor-Familie ist der zugige graue Kasten mit seinen 775 Räumen unbeliebt, seine auf zehn Jahre angelegte Renovierung wird mehrere Hundert Millionen verschlingen. Für die Bevölkerung bleibt der Palast im Herzen Londons, am Ende der Prachtstraße Mall, der Treffpunkt für wichtige Ereignisse im Leben der Nation.

Also hat sich auch Erika Molnor aus dem Osten Londons auf den Weg gemacht, ehe nachmittags ihre Schicht als Kosmetikerin beginnt. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet, "und das wird für die Trauerzeit auch so bleiben". Lange bevor Molnor vor acht Jahren aus Ungarn nach London kam, hatte die Kosmetikerin die englische Queen liebgewonnen: "Sie war eine starke Frau." Irgendwie habe sie zur Familie gehört.

"Das muss sich erst setzen"

Und König Charles III? Na ja, sagt Molnor, "das muss sich erst setzen. Aber es ist die Tradition, und wir werden uns daran gewöhnen." Ähnlich nüchtern sehen es auch Cleo und Danny Mace. Das Londoner Paar hatte sich für diesen Freitag ohnehin freigenommen, weil sie endlich einmal die im Sommer öffentlich zugänglichen Säle des Buckingham-Palasts besichtigen wollten. Stattdessen legen sie nun Blumen nieder für die Queen, die sie verehrten. Und mit dem neuen König würden sie schon auch irgendwie zurechtkommen, ist Danny überzeugt: "Der wird das Land so führen, wie wir es wollen."

Abschied nehmen von der Queen – das ist das Ziel der Trauernden im Londoner Zentrum.
Foto: APA / AFP / Adrian Dennis

Noch will den Briten an diesem Tag nicht recht in den Kopf, dass der am längsten amtierende Prinz in der Geschichte des englischen Königshauses nun ihr König ist. Im Radio müht sich die Prominenz. "Seine Majestät", das klinge irgendwie komisch, sagt der anglikanische Erzbischof Justin Welby und lacht verlegen. Die 90-jährige Historikerin Antonia Fraser plaudert munter über den "Prinzen", bis der BBC-Moderator sie dezent auf die neue Situation hinweist. "Ach ja, Entschuldigung, das muss ich mir merken."

King? Das ist komisch

Auf den Straßen der Hauptstadt geht es den Untertanen des neuen Monarchen nicht anders. "Also, God Save the King zu sagen, das wird sicher komisch", glaubt Rory Burke. Ach ja, und bald ein neues Gesicht auf allen Banknoten, auf allen Münzen – sich das alles vorzustellen, "das ist ein bisschen schwierig im Moment". Immerhin seien sich Bürger und Staatsoberhaupt in dieser Situation ja einig: "Für ihn ist das doch auch furchtbar schwer."

Tatsächlich bekommt Charles warmen Applaus, muss unzählige Hände schütteln, als er am Nachmittag vor dem Palast eintrifft. Mit solchen Untertanen, so scheint es, ist die Zukunft der Monarchie auf längere Sicht gesichert, ganz wie es den Wünschen der Queen entsprach.

Freilich bleiben alle Überlegungen zu Charles an diesem Tag höchstens zweitrangig. Ganz im Mittelpunkt steht die Trauer um die Verstorbene, die Würdigung ihres langen Lebens, die Planung für die auf zehn Tage angelegten Trauerfeierlichkeiten, an deren Ende das erste Staatsbegräbnis seit Kriegspremier Winston Churchills Tod 1965 stehen wird. Dann reist auch Rory Burke wieder nach London: "Die Jubiläumsfeiern habe ich mir im Fernsehen angeschaut. Aber diesmal will ich selbst dabei sein." (Sebastian Borger aus London, 9.9.2022)