Etwa 4500 Beschäftigte aus 67 Nationen, 800 davon in der Forschung, 200 Millionen Euro an Investitionen jährlich und Produkte, die sechs Millionen Patienten erreichen: Die Tiroler Niederlassung von Novartis, die sich über die Standorte in Kundl und Schaftenau erstreckt und heute als ein Campus betrachtet wird, wirkt für die ländliche Alpenidylle Westösterreichs monumental. Es ist keine Überraschung, dass das Unternehmen der größte private Arbeitgeber des Bundeslandes ist.

Von Bier zu Biochemie

In Kundl, wo der französische Besatzungsoffizier und Chemiker Michel Rambaud 1946 auf die Idee kam, in einer stillgelegten Brauerei mit den vorhandenen Maschinen Penicillin herzustellen, steht heute noch die "letzte vollintegrierte Produktion für orale Antibiotika in der westlichen Welt". Ein großer Teil des Aufschwungs ist den Tiroler Chemikern Ernst Brandl und Hans Margreiter zu verdanken, die hier Anfang der 1950er das erste Penicillin entdeckten, das nicht durch die Magensäure zerstört wird und oral einnehmbar ist. Das kleine Tiroler Werk mit dem schlichten Namen "Biochemie" hatte plötzlich einen Wirkstoff von globaler Relevanz im Portefeuille.

Ein hoher Digitalisierungsgrad und ein energiesparendes, flexibles Verfahren: Die kontinuierliche Fertigung im Pharmabereich verspricht große Vorteile.
Foto: Novartis

Die Biochemie Kundl wurde später von Sandoz übernommen, der wiederum 1996 mit Ciba-Geigy zu Novartis, einem der größten Pharmakonzerne weltweit, fusionierte. Erst heuer wurde in Schaftenau eine 300-Millionen-Euro-Fertigung für Biopharmazeutika eröffnet – eine Errungenschaft, die man hier gerne in einer Reihe mit der einstigen Penicillin-Revolution sieht. Biopharmazeutika sind komplexe Moleküle, die mittels gentechnisch veränderter Organismen hergestellt werden und etwa bei Immunkrankheiten oder in der Krebstherapie Einsatz finden – eine der wesentlichsten Wirkstoffentwicklungen der letzten Jahrzehnte. Das Besondere an der neuen Tiroler Anlage: Es soll sich um die weltweit erste voll kontinuierliche Fertigung dieser Art handeln.

Produktion nach dem Fließbandprinzip

Im Kontrast zu konventioneller Batch-Fertigung, die Charge für Charge, Bioreaktorfüllung für Bioreaktorfüllung produziert, ist die Umsetzung in einem kontinuierlichen Fließbandprinzip eine Weiterentwicklung, die im Pharmabereich seit langem auch für Biopharmazeutika angestrebt wird. "Es ist kein Luftschloss mehr wie noch vor fünf Jahren", sagt Mario Riesner, Geschäftsführer der Tiroler Novartis, bei einem vom Fachverband der chemischen Industrie Österreichs (FCIO) organisierten Werksbesuch. "Es gibt keinen Standort im Novartis-Konzern, in den in den vergangenen Jahren so viel investiert wurde wie hier in Schaftenau."

Wirkstoffproteine in lebenden Zellen kontinuierlich zu fertigen bedeutet, dass sich die Dimensionen ändern. In der Batch-Produktion hier fassen die Bioreaktoren bis zu 13.000 Liter, der zentrale Reaktor in der kontinuierlich arbeitenden "Bio-Future"-Anlage dagegen nur 1000 Liter, betont Thomas Maier, der Leiter der neuen Fertigung.

Die kultivierten Zellen, ursprünglich aus den Eierstöcken von Hamstern gezüchtet, sind ein Standardorganismus in der Herstellung von Biopharmazeutika. Ihnen sind neue Gene eingepflanzt, die als "Bauplan" für neue Stoffwechselprodukte – die späteren Wirkstoffe – dienen. Diese werden hier abgeleitet und auf das "Fließband" zu weiteren Stationen der Filtration und Aufreinigung geschickt. Die Zellen selbst sind aber anders als in konventioneller Fertigung nicht obsolet, sondern zirkulieren zurück in den Bioreaktor und gedeihen in täglich erneuerter Nährlösung weiter – eine Strategie, die zu einer stärkeren Vermehrung, zu bis zu 15-mal mehr Zellen pro Volumen und zu entsprechend hoher Produktivität führt.

Das besondere an der Anlage ist die kontiniuerliche Produktion lebender Zellen.
Foto: Novartis

Die kontinuierliche Fertigung darf man sich laut Maier nicht als ununterbrochenen Schwall wie aus einem Wasserhahn vorstellen, sondern eher als beständiges "Tröpfeln": Die volle Kontrolle über den Prozess wird möglich, indem der Wirkstoff in definierte Volumina eingeteilt wird, die dem Bioreaktor immer wieder entnommen und durch die weiteren Stationen geschickt werden. Insgesamt dauert es Wochen, bis der automatisch kontrollierte und gesteuerte Weg von der Hamsterzelle bis zum fertigen Wirkstoff zurückgelegt ist. "Wir haben einen Digitalisierungsgrad wie sonst in keiner Anlage", sagt Maier.

Sparsameren Energieverbrauch

Einer der Vorteile des Ansatzes ist Flexibilität: Die Produktion kann schnell auf neue Wirkstoffe umgestellt werden, was Medikamente um Jahre früher zum Patienten bringen könne. Die kleinere Dimensionierung bedeutet für Maier auch einen geringeren Energieverbrauch. Der Betrieb großer Edelstahltanks in der Batch-Produktion benötige etwa auch aufwendige Steriltechnik.

Der Weg der Wirkstoffe aus der neuen Anlage Richtung Markt ist mit einer Reihe von Herausforderungen gepflastert. Dazu gehört der genaue Nachweis gegenüber den Regulatoren, dass die kontinuierliche Produktion genauso verlässlich ist wie die Batch-Fertigung. Denn das entsprechende Regelwerk ist auf die alte Systematik ausgelegt.

"Eine wichtige Frage war, wie eine Charge, auf die sich die Freigabe am Schluss bezieht, in der kontinuierlichen Fertigung definiert ist", umreißt Maier das Problem. "Die Lösung war, dass wir bestimmte Laufzeiten definieren und etwa nachweisen, dass während dieser Laufzeiten die Zellen genetisch stabil sind." Die Biopharmazeutika, die gegenwärtig hier produziert werden, können frühestens 2024 Patienten verabreicht werden. Denn die derzeitige Fertigung ist auch dazu da, Daten für die Produkteinreichung zu sammeln.

Zugleich kämpft der energieintensive Tiroler Standort wie viele Betriebe mit hohen Energiepreisen. Immerhin wird hier so viel Strom wie in ganz Innsbruck verbraucht. Geschäftsführer Riesner spricht von Energiekosten in der Höhe von zehn bis zu 15 Millionen Euro 2021, die 2023 auf bis zu 120 Millionen ansteigen könnten. Bei der energieintensiven Antibiotikafertigung wird das zum Problem. "Entschärft sich das Problem nicht, werden diese Produkte stark in Bedrängnis geraten", sagt Riesner, der auch Produktionsdrosselungen nicht mehr ausschließt. (Alois Pumhösel, 16.10.2022)