Die Proteste im Iran gehen weiter.

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Der Brand im berüchtigten Evin-Gefängnis.

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Ein Blick ins Evin-Gefängnis nach dem Brand.

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Brandschäden am Gebäude.

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Bei dem Brand im Teheraner Gefängnis Evin am Samstagabend sind vier Menschen getötet und 61 verletzt worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Irna am Sonntag. Laut Justiz wurde "nach einem Streit zwischen Häftlingen" in einem Werkraum des Gefängnisses Feuer gelegt. Die vier Gefangenen seien an Rauchvergiftungen gestorben, hieß es am Sonntag auf der Justiz-Website Misan Online. Zeugen zufolge waren aus dem Gebäude in der iranischen Hauptstadt Schüsse zu hören.

Die Gefängnisleitung sprach von einer kurzfristigen Meuterei, die Lage sei wieder unter Kontrolle. "Hooligans und Randalierer" hätten zudem eine Auseinandersetzung mit den Gefängniswärtern begonnen und dann im Textillager einen Brand entfacht. Die Feuerwehr habe ihn aber bereits gelöscht. Demonstrierende bestreiten, dass der Brand von Insassen gelegt wurde, sie beschuldigen stattdessen die iranischen Behörden. Sowohl die Angaben des Iran als auch die Kritik der Protestierenden lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Laut Irna waren Gefängnisinsassen beteiligt, "die wegen Finanzdelikten und Diebstahls verurteilt worden waren". Die Nachrichtenagentur Tasnim meldete, die wegen Sicherheitsvergehen Inhaftierten seien nicht an dem Vorfall beteiligt gewesen.

Politisch Gefangene

Aus dem Umfeld von Massud Mossaheb, ein iranisch-österreichischer Doppelstaatsbürger, der seit Jänner 2019 im Evin-Gefängnis inhaftiert ist, heißt es auf Twitter, dass Mossaheb zwar am Leben, aber in einem schlechten gesundheitlichen Zustand sei. Er könne nach der Einatmung von Tränengas kaum sprechen. Auch der Zustand des zweiten iranisch-österreichischen Doppelstaatsbürgers in Evin, Kamran Ghaderi, ist den Umständen entsprechend in Ordnung, wie der STANDARD erfuhr.

Evin ist wegen der dort inhaftierten politischen Gefangenen und Kritik von Menschenrechtsgruppen wegen Folter und Misshandlungen international bekannt. Auch mehrere Ausländerinnen und Ausländer sowie Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft wie die französisch-iranische Forscherin Fariba Adelkhah sind dort inhaftiert. Auch der bekannte iranische Filmemacher Jafar Panahi und der Reformpolitiker Mustafa Tajsadeh sitzen im Evin-Gefängnis.

Schüsse und Parolen

Den Zeugen zufolge waren die Straßen zum Gefängnis abgeriegelt und Krankenwagen und Sondereinsatzkräfte zu sehen. Es seien einige Zeit noch Schüsse zu hören und Personen am Dach der Haftanstalt zu sehen gewesen. Die Familien von Inhaftierten hätten sich vor dem Gebäude versammelt. "Die Menschen in den benachbarten Gebäuden skandieren aus den Fenstern 'Tod Khamenei'", sagte ein weiterer Zeuge unter Verweis auf das geistliche Oberhaupt des Iran, Ayatollah Ali Khamenei.

Zuvor hatte die Tageszeitung "Shargh" via Twitter von den Vorfällen berichtet. Unter anderem wurde auch ein Video verbreitet, das jedoch nicht verifiziert werden kann. Die Anti-Regierungs-Proteste gingen indes unvermindert weiter. Im Evin-Gefängnis im Norden Teherans sitzen nicht nur zahlreiche politische Gefangene, sondern auch Demonstranten, die dort wegen ihrer Teilnahme an den systemkritischen Protesten der vergangenen vier Wochen inhaftiert sind.

Demonstrationen in Deutschland

Die USA äußerten sich besorgt über die dramatische Lage. "Wir verfolgen die Berichte aus dem Evin-Gefängnis mit großer Dringlichkeit", schrieb der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, auf Twitter. "Iran trägt die volle Verantwortung für die Sicherheit unserer zu Unrecht inhaftierten Bürger, die unverzüglich freigelassen werden sollten." Staatschef Ebrahim Raisi warf US-Präsident Joe Biden am Sonntag vor, mit seinen Bemerkungen "Chaos, Terror und Zerstörung" anzuzetteln.

Kritiker im Ausland warnten indes vor einem Blutbad in dem Gefängnis. "Die Inhaftierten, darunter zahllose politische Gefangene, sind in diesem Gefängnis völlig schutzlos", sagte Hadi Ghaemi, Geschäftsführer der in New York ansässigen Menschenrechtsorganisation Center for Human Rights in Iran (CHRI) laut einer Mitteilung. "Die iranischen Behörden haben wiederholt gezeigt, dass sie das menschliche Leben völlig missachten, und wir sind äußerst besorgt darüber, dass Gefangene in diesem Moment getötet werden."

Weiter Proteste im Iran

Der aus dem Ausland operierende Nationale Widerstandsrate des Iran (NCRI/NWRI), auch bekannt als Volksmujaheddin, rief in einer Aussendung die Bevölkerung und die Jugend in Teheran auf, den Familien zu Hilfe zu eilen, die sich vor dem Evin-Gefängnis versammelt haben, um das Leben der Gefangenen zu retten. Das Regime müsse daran gehindert werden, "die Gefangenen zu massakrieren". Zudem seien Reaktionen von Uno und EU gefordert, hieß es seitens der Volksmujaheddin.

Ob die Meuterei im Zusammenhang mit den anhaltenden systemkritischen Protesten im Land stand, war vorerst unklar. Trotz des gewaltsamen Vorgehens der Behörden gegen Demonstranten und massiven Einschränkungen beim Internetzugang gingen die fünfte Woche in Folge zahlreiche Menschen auf die Straße. Laut der Denkfabrik Institute for the Study of War kam es in mindestens 22 Städten in 16 Provinzen erneut zu Protesten.

Bei einer Demonstration an der Shariati-Universität in der Hauptstadt Teheran riefen Frauen ohne Kopftücher Slogans wie "Die Mullahs sollen sich verziehen!", wie ein im Internet verbreitetes Video zeigte. Weitere Proteste gab es etwa in Isfahan und Kermanshah.

In der Stadt Hamedan, westlich von Teheran, wurden aus einer johlenden und pfeifenden Menge Wurfgeschosse auf Sicherheitskräfte geschleudert, wie von der Nachrichtenagentur AFP geprüfte Aufnahmen zeigten. Laut dem Onlinedienst 1500tasvir riefen junge Frauen an einer Hochschule in Teheran "Freiheit, Freiheit, Freiheit", während sie ihre Kopftücher in der Luft schwenkten. Der Online-Kanal, der Proteste und Polizeiübergriffe dokumentiert, berichtete zudem von streikenden Ladenbesitzern in der Provinz Kurdistan und in Westaserbaidschan.

Angaben der in Norwegen ansässigen Menschenrechtsorganisation Hengaw zufolge begannen Schülerinnen im Dorf Ney in der Provinz Mariwan ihre Proteste, indem sie "Feuer legten und regierungsfeindliche Slogans anstimmten". Wie der Online-Monitor NetBlocks berichtete, wurden Demonstranten in auf Twitter geteilten Videos auf den Straßen der nordwestlichen Stadt Ardabil gesehen. Online verbreitetes Filmmaterial zeigte zudem demonstrierende Studenten an Universitäten in Teheran, Isfahan und Kermanschah.

Als Reaktion auf die Proteste rief der Islamische Koordinationsrat für Entwicklung die Menschen im Iran dazu auf, "ihre revolutionäre Wut gegen Aufruhr und Randalierer auszudrücken". Wie ein Journalist der Zeitung "Shargh" berichtete, wurden zudem "Pensionäre" der Revolutionsgarden wegen der "aktuell heiklen Situation" gebeten, am Samstag zusammenzukommen.

Sanktionen der EU

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell schrieb nach einem Telefongespräch mit dem iranischen Außenminister Hossein Amir-Abdollahian auf Twitter, die Menschen im Iran hätten das Recht, "friedlich zu protestieren und die Grundrechte zu verteidigen". Amir-Abdollahian hatte laut einer am Samstag veröffentlichten offiziellen Erklärung in dem Telefonat am Freitag den Europäern empfohlen, "das Thema mit einem realistischen Ansatz zu betrachten".

Wegen des gewaltsamen Vorgehens gegen Demonstranten im Iran hatten die EU-Länder sich am Mittwoch auf neue Sanktionen gegen Teheran geeinigt. Laut Diplomatenkreisen sollen die EU-Außenminister die Strafmaßnahmen am Montag bei einem Treffen in Luxemburg offiziell beschließen.

Die Proteste im Iran waren durch den Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini ausgelöst worden. Die 22-Jährige war am 16. September in Teheran gestorben, nachdem sie dort drei Tage zuvor von der Sittenpolizei wegen des Vorwurfs festgenommen wurde, ihr Kopftuch nicht den Vorschriften entsprechend getragen zu haben.

Bei den seitdem andauernden Protesten sind nach Angaben der in Norwegen ansässigen Menschenrechtsorganisationen Iran Human Rights (IHR) bis Mittwoch mindestens 201 Menschen getötet worden, darunter mehr als 20 Kinder. Reuters zitierte am Sonntag Menschenrechtsgruppen, die von "mindestens 240 gestorbenen Demonstrierenden" sprachen, darunter 32 Minderjährige. Der Aktivistengruppe HRANA zufolge wurden über 8.000 Personen in 111 Städten verhaftet. (APA, red, 16.10.2022)