Am Ende der Schemerlbrücke in Wien, unter der Klosterneuburger Bundesstraße, da sammeln sie sich. Es ist Donnerstag, 16 Uhr, und alle paar Minuten werden es mehr. Männer zwischen 35 und 50. Auf Rennrädern, die so leicht sind, dass die Radler wohl Angst haben, der Wind könnte sie davontragen, wenn sie absteigen. Und so stehen sie wild durcheinander, klicken ihre Schuhe aus und zurück ins Pedal, lachen über ihre Witze. Sie schauen alle gleich aus, tragen die gleichen Trikots. Blütenweiß, mit bunten Logos. Erst als sich mehr als eine Viertelmillion Euro von in Fahrräder gegossenes Carbon gesammelt haben, fahren sie los.

Mamils und Dentist-Biker

Genau diese Männer – Mamils heißen sie in der Szene, "middle aged men in lycra" – muss meine Kollegin Lisa gemeint haben, als sie unlängst bissig fragte: "Wann hat eigentlich das Fahrrad den Porsche ersetzt – als Sehnsuchtsobjekt der von der Midlife-Crisis geplagten?"

Mein erster Gedanke: "Hat es das? Ich wäre nie auf die Idee gekommen, meinen alten Sportwagen zu verkaufen, als ich mir mit 40 mein erstes Fahrrad zulegte." Und damit war auch gleich die Frage erledigt, die mir eigentlich als erste hätte einschießen müssen: "Warum fragt sie das eigentlich genau mich?"

Foto: iStockphoto / Duncan Andison

"Dentist-Biker heißen die bei uns im Westen", erzählt ein ewiger Mountainbiker aus Tirol. "Unglaublich, welche Gestalten da in der Talstation Mountainbikes um 20.000 Euro vom fetten SUV laden, um dann im Track alle aufzuhalten, weil sie so langsam dahinschleichen."

Bereits Ende der Nullerjahre fiel in der britischen Verkaufsstatistik von Fahrrädern auf, dass die Gruppe der 35- bis 50-jährigen Käufer stark wächst. Damit nicht genug, die Gruppe gab auch mehr Geld für Fahrräder und Zubehör aus als jede andere. Das Marktforschungsunternehmen Mintel nannte das Phänomen kurzerhand die "Nullerversion der Midlife-Crisis".

Inzwischen haben die E-Bikes und die Pandemie die Situation noch verstärkt, ist Martin Rösner von Mountainbiker überzeugt. Er sieht jedoch keinen großen Zusammenhang zwischen Midlife-Crisis und dem Kauf teurer Fahrräder. "Es sind eher die Elektrofahrräder, die da viel verändert haben. Wer konditionell bislang nicht mithalten konnte, kann das jetzt auf einmal." Damit nehme der Wettbewerbsgedanke ab und das Gemeinschaftsgefühl zu.

Die Psychologie dahinter

In der Pandemie hatten die Menschen auf einmal mehr Zeit und wurden sich ihrer Gesundheit bewusster, darum machen nun mehr Sport – eben auch vermeintliche Midlife-Krisler mit dem E-Bike. Und dass sich bestimmte soziale Schichten nur Highend-Räder nehmen, das sei auch nicht neu.

"Die Midlife-Crisis ist ein Mittelschichtphänomen und kann als Indikator für eine anstehende Neuorientierung im Leben angesehen werden", sagt Ferdinand Wolf, klinischer Gesundheitspsychologe. Die großen Überraschungen in Beruf und Familie liegen hinter einem. "Das erfordert eine Umstellung sowohl auf der Paarebene – neue Zweisamkeit – als auch insgesamt", weil man sich frage, ob es das nun schon alles gewesen sei oder ob nicht etwas fehle, um von einem erfüllten Leben sprechen zu können.

Stimmungsaufheller

"Sport kann im Rahmen einer Midlife-Crisis durchaus als Antidepressivum aufgefasst werden, nachdem Bewegung immer ein gutes Mittel gegen Verstimmungen aller Art darstellt", erklärt Ferdinand Wolf. Und mit einem sauteuren Rad könne man dabei zweierlei beweisen. Erstens, dass man immer noch leistungsfähig sei, und zweitens, dass man es sich leisten könne, leistungsfähig zu sein. Stimmt, merke ich, denn was sagt schöner "Ich geb dir deine Jugend zurück" als edle und feine Carbonfasern?

"Die teure Sportausrüstung ist ein Zeichen dafür, dass man einerseits qualitätsbewusst ist, aber auch, dass man in der Lage ist, nur das Beste vom Besten zu kaufen. So wird gleichzeitig ein Signal ausgesendet, das anderen zeigen soll, hier kommt jemand, der keine halben Sachen macht, sondern nur vorne dabei sein möchte – und wenn es nur die Sportausrüstung ist, die vorne steht."

Und der Porsche?

Was das Phänomen Sportwagen bei Männern in der Midlife-Crisis angeht, fragt der Psychologe: "War das wirklich so, dass die älteren Porsche-Fahrer dieses Auto als Kompensation einer Midlife-Crisis erworben haben?" Er beantwortet sich die Frage subjektiv selbst.

"Wenn ich mir die von mir beobachteten Sportwagenfahrer ins Bewusstsein hole, so fällt mir auf, dass die meisten von denen kaum eine Walter-Röhrl-Statur hatten, sondern sie sich eher durch eine aus meiner Sicht geringe Körpergröße ausgezeichnet haben. Ob der Sportwagen da etwas ausgleichen sollte, was die Natur anders gestaltet hat, ist von der jeweiligen Beobachterperspektive zu beantworten."

Doch ich kann von der These nicht lassen. Allein schon wegen der eingangs erwähnten und von Lisa aufgezwungen Selbstreflexion, die zu der Erkenntnis führte, dass ich genau so ein Kasperl bin. Mit Mountainbike und historischem Rennrad. Zwar alle zusammen billig, weil mir zum echten Dentist-Biker der Beruf und der damit verbundene finanzielle Spielrahmen fehlen. Aber übel riechendes Lycra, ja, das kenne ich inzwischen.

Zum Radln fliegen

Und ich hab sie gesehen, die Kollegen, die jedes Jahr ab Februar ihre sorgsam verpackten Rennräder am Flughafen aufgeben, um sie in Malle wieder entgegenzunehmen. Denn nur sie selbst haben das ultimative Fahrrad für die Tramontanaüberquerung. Sowas kann man auf der Insel nicht einfach ausborgen. Also frage ich weiter.

Michael Knopf ist ein in der Szene wohlbekannter Fahrradhändler in Mattersburg. Und auch er will keinen Zusammenhang zwischen Midlife-Crisis und Fahrradkauf erkennen. Bis ich ihn frage, ob er mir die typische Kundenschicht beschreiben könne, die bei ihm die teuersten Räder kaufe. Da wird er kurz ruhig. Und dann gibt er zu, ja, das seien Männer um die 40. Volltreffer!

"Dass die Räder um 15.000 Euro wollen und kaufen ist keine Seltenheit mehr", sagt Michael Knopf. Aber das liege nicht nur an Lebenskrisen, ist er überzeugt, sondern auch an der Pandemie und neuerdings an der Inflation. Bevor das Geld von alleine verschwindet, gibt man es lieber aus. Eine schöne Midlife-Crisis muss man sich also schon auch leisten können. (Guido Gluschitsch, 21.10.2022)