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Mit jedem Wort, das Mamadou Moustapha Bâ und Victoria Kwakwa sagen, verschieben sich die eigenen Perspektiven. Kwakwa, Vizepräsidentin der Weltbank, und Moustapha Bâ, Finanzminister seines Heimatlandes Senegal, sitzen auf einem Podium und diskutieren über die wirtschaftliche und soziale Lage Afrikas. Die Jahrestagung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington ist voll im Gange. Die vergangenen Tage ist es meist um Europas Probleme gegangen, die teure Energie dort und die hohe Inflation. All das sind große Herausforderungen, keine Frage. Und doch ist es eine Krise, die sich auf einem reichen Kontinent abspielt, wie an diesem Samstagmorgen klar wird.

Millionen Menschen ohne Energieversorgung

"568 Millionen Menschen in Afrika haben aktuell gar keinen Zugang zu Energie", sagt die Weltbank-Ökonomin Kwakwa. Die Zahl sei in den vergangenen zwei Jahren noch weiter gestiegen. Rund 40 Millionen Menschen mehr leben heute zudem in extremer Armut in Afrika als 2020. Senegals Finanzminister Moustapha Bâ ergänzt, dass sein Land gerade nicht eine, sondern multiple Krisen durchlebe: Da sei die hohe Inflation. Lebensmittelpreise sind im Senegal im Jahresabstand um 18 Prozent gestiegen. Die starke Aufwertung des US-Dollars setze das Land unter Druck, weil Senegal einen großen Teil der importieren Waren in Dollar zahlen muss. Die Finanzsituation sei angespannt, Senegals Regierung komme kaum noch an Kredite. Im Budget fehle Geld für wichtige Sozialleistungen.

Mehr arme Menschen, Regierungen, denen das Geld ausgeht: Im Schatten der Verwerfungen in der industrialisierten Welt, als Folge des Ukraine-Krieges, entfaltet sich eine zweite Krise in den ärmsten Ländern der Welt. Diese trifft Gesellschaften, die deutlich vulnerabler sind als jene in der westlichen Welt. Die Entwicklung beendet eine lang anhaltende Periode, in der es schien, als würde die Welt die schlimmste Form der Armut schon bald hinter sich lassen.

Globale Produktionsprozesse förderten Wohlstand

Seit mehr als drei Jahrzehnten sinkt die globale Armut, so wie sie von der Weltbank gemessen wird, kontinuierlich. Eine Milliarde Menschen sind in dieser Zeit dem Leben im völligen Mangel entkommen. Fortschritte gab es in China, Bangladesch, Vietnam, Tansania, Kongo, Indien oder in der Republik Moldau.

Verantwortlich dafür war eine Kombination von Ursachen: Die Integration von Ländern wie Indonesien, Vietnam und China in globale Produktionsprozesse hat den Wohlstand in diesen Länden befördert, gestützt auf stärkeren staatlichen Institutionen, um diesen zu verteilen. Indiens Wirtschaft ist schnell gewachsen, wovon auch ärmere, ländliche Regionen profitierten. Auch viele afrikanische Länder konnten neue Einnahmequellen erschließen, im Tourismus etwa, im Finanzsektor, selbst in der Industrie.

Niedrige Armutsgrenze

Die Entwicklung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schwelle zur Messung der extremen Armut niedrig angesetzt ist. Wer pro Tag, kaufkraftbereinigt, über mehr als 2,15 Dollar (2,19 Euro) verfügt, gilt in den Augen der Weltbank nicht mehr als bitterarm. Bis vor kurzem war die Schwelle noch bei 1,9 Dollar. Das ist immer noch sehr wenig Geld.

Doch es war unbestreitbar, dass es in allen Weltregionen Fortschritte gab. Dieser Trend ist gebrochen, "der weltweite Fortschritt hat sich umgekehrt", wie Justin Sandefur vom Center for Global Development, einem auf Armutsfragen spezialisierten Thinktank in Washington, formuliert.

Folgen der Pandemie

Hauptverantwortlich dafür sind die Corona-Pandemie und die folgenden Lockdowns, die Touristenströme und Investitionen versiegen ließen. Die Corona-Krise hat unzählige Jobs vernichtet und Menschen die Einkommensgrundlage entzogen, "sie war die schwerste Erschütterung des Kampfes gegen die globale Armut seit dem Zweiten Weltkrieg", schreibt die Weltbank in ihrem neuen Bericht "Poverty and Shared Prosperity". Als Folge sind weltweit weitere 70 Millionen Menschen unter die absolute Armutsschwelle gefallen, 40 Millionen davon in Subsahara-Afrika. Insgesamt müssen 719 Millionen Menschen mit weniger als 2,15 Dollar am Tag auskommen.

Die Welt hätte auf den alten Pfad, hin zu weniger Armut, zurückfinden können. 2021 setzte eine Erholung sein. Aber 2022, nachdem russische Panzer in die Ukraine gerollt waren, war diese Phase auch schon wieder zu Ende. Die Kombination aus dem, was folgte, also der steigenden Inflation und der sich abkühlenden Weltwirtschaft, führt dazu, dass 2022 nach 2020 das zweitschlechteste Jahr in puncto Armutsbekämpfung werden dürfte.

Entwicklungsländer bekommen die Zinsanhebungen der Zentralbanken am stärksten zu spüren.
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Schuldenkrise in Entwicklungsländern

Weniger bekannt ist im Westen, dass parallel dazu eine Schuldenkrise in einem Teil der Welt köchelt. Als Folge der Inflation haben viele Zentralbanken ihre Zinsen angehoben. Geld ist nicht mehr so billig zu haben. Investoren beäugen Schuldner wieder skeptischer. Am stärksten zu spüren bekommen das jene Staaten, die ohnehin schon finanziell zu kämpfen hatten: Entwicklungsländer.

Als Folge der Pandemie haben auch diese Länder Corona-Hilfspakete für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen aufgesetzt. Der Schuldenstand afrikanischer Länder ist angestiegen. Das Problem ist, dass sich die meisten armen Staaten in Fremdwährungen verschulden, vor allem in Dollar. Nur Fremdwährungen bieten Zugang zu internationalen Märkten und Geldgebern. 60 Prozent der Schulden in Subsahara-Afrika bestehen aus Devisenverbindlichkeiten. Durch die Aufwertung des Dollar wird es teurer, die Kredite zurückzuzahlen. Der Dollar hat gegenüber vielen afrikanischen Währungen 15 Prozent an Wert gewonnen. Durch den Zinsanstieg wird es zudem teurer, an frisches Geld zu kommen.

Die Folge ist, dass die Ausgaben vieler Staaten für ihren Schuldendienst gestiegen sind. Im Schnitt geben afrikanische Länder derzeit 16 Prozent ihrer Einnahmen für Zinsen aus. Zum Vergleich: In Österreich sind es heuer um die fünf Prozent.

Weniger Geld für Gesundheitssysteme

Der Buchautor und Anthropologe Jason Hickel, ein Shootingstar der Globalisierungskritiker, hält treffend fest, dass mehr Gelder aus dem Globalen Süden in Richtung Norden abfließen, als umgekehrt von dort in Form von Entwicklungshilfe und Investitionen kommen. Ein Grund sind die Zinszahlungen ärmerer Länder.

Dabei kaschieren die Durchschnittswerte, dass viele Länder mit ihren Einnahmen wenig anderes tun, als Zinsen zu zahlen. Angola muss ein Drittel seiner Einnahmen an Gläubiger abliefern. Sudan 62 Prozent, Gambia 20 Prozent, zeigen Zahlen von Debt Justice, einer britischen NGO.

Angesichts dieser Summen bleibt weniger Geld für Gesundheitssysteme oder Investitionen. Laut IWF sind 23 Staaten in Afrika in Verschuldungsnotstand oder nah an diesem dran. Dazu gehören Malawi wie ebenso Simbabwe, Mosambik, der Tschad oder Ghana. Eine Reihe dieser Länder könnte 2023 um Finanzhilfe beim IWF ansuchen – der gibt Geld, verlangt im Gegenzug aber Reformen und Einschnitte.

Keiner will entschulden

Die Armut hat zugenommen. Besonders in Subsahara-Afrika fehlt der finanzielle Spielraum für Regierungen, um zu reagieren. Welche Ideen gibt es, um die Situation zu entschärfen? Die Weltbank empfiehlt armen Ländern, ihre Haushalte in Ordnung zu bringen, und zwar über neue Steuern: auf Vermögen etwa oder CO2. Mit diesem Geld sollen Investitionen in bessere Infrastruktur, etwa in Schulen, finanziert werden.

Spielraum gibt es theoretisch dafür. Industrieländer erzielen im Schnitt Steuereinnahmen in Höhe von 33 Prozent ihrer Wirtschaftleistung. In Entwicklungsländern sind es gerade elf Prozent. Aber das hat viele Gründe, fängt bei schlechter Verwaltung an und endet bei Korruption. Das lässt sich nicht leicht ändern. Armutsforscher Sandefur verlangt daher einen neuen Mechanismus, um die ärmsten Länder zu entschulden. "Wir befinden uns in der merkwürdigen Situation, in der das allen Entscheidungsträgern weitgehend klar ist, aber niemand viel dafür tut", sagt Sandefur.

Struktur der Verschuldung

Verkompliziert werden solche Forderungen, weil sich die Struktur der Verschuldung verändert hat. In der Vergangenheit waren die Kreditgeber der ärmsten Länder Mitglieder des Pariser Klubs. Das ist ein Zusammenschluss von Gläubigern, dem die USA, Deutschland oder Österreich angehören.

Dazu kamen multilaterale Organisationen. Innerhalb von 15 Jahren ist China zu einem der großen Geldgeber geworden. 2006 hatten die 73 ärmsten und am meisten verschuldeten Länder zwei Prozent ihrer Kredite bei China genommen. Heute sind es fast 20. Die USA und Europa werfen China vor, undurchsichtige Verabredungen zu treffen. Keiner wisse, welche Bedingungen Peking bei Krediten stelle. Selbst Schulden zu erlassen, während China das nicht tue, komme für den Westen nicht infrage. Also herrscht ein Patt im Stillstand. (András Szigetvari, 22.10.2022)

Sie verrichten den Großteil der unbezahlten Arbeit, arbeiten überdurchschnittlich oft in der Teilzeit und landen am Ende in der Altersarmut. Wieso Österreichs Frauen arm sind und was man dagegen unternehmen kann.
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