Am 10. Oktober begannen die seit Kriegsbeginn heftigsten Raketenangriffe Russlands auf ukrainische Städte.

Foto: IMAGO/Ukrinform/Yevhen Kotenko

Es weckte bittere Erinnerung an die ersten Tage des russischen Angriffskrieges in der Ukraine: Anfang Oktober, kurz nach den Explosionen auf der Brücke, die die Krim mit russischem Festland verbindet, griff Russland wieder zahlreiche ukrainische Städte in großem Stil mit Raketen an. Russland überzog Städte wie Kiew, Dnipro oder Lwiw mit einem Raketenhagel, der auch zahlreiche zivile Ziele traf und Dutzende Zivilistinnen und Zivilisten tötete.

Ein internationales Team investigativer Journalistinnen und Journalisten hat nun Ergebnisse einer monatelangen Recherche veröffentlicht, die aufzeigen sollen, wer für diese Raketenangriffe unmittelbar verantwortlich ist. In einer sechsmonatigen Recherche fanden die Rechercheplattform Bellingcat, der Spiegel und das russische Online-Medium The Insider heraus, wer die mutmaßlichen Kriegsverbrechen durchführte.

Hochpräzisionsrakten auf Zivilisten?

Heikel ist die Liste der Namen besonders in Zusammenhang mit der Art von Raketen, die verwendet wurden. Sieht man sich die Reste der Raketen an, mit denen zivile Ziele seit Kriegsbeginn beschossen wurden, erkenne man laut Bellingcat, dass es sich dabei um Raketen der Typen Kalibr, Iskander oder Kh-101 handelt – allesamt laut Russland Hochpräzisionsraketen. Wenn derartige Waffen also zivile Ziele treffen, könne man nur von vorsätzlichen Angriffen ausgehen – oder zahlreicher technischer Gebrechen. Daher sind die Namen der Personen, die hinter den Angriffen stehen so wichtig.

Metadaten der Mobiltelefone einiger Personen zeigen den Recherchen zufolge, dass ein paar Dutzend Personen, die im Sitz des russischen Verteidigungsministerium in Moskau sowie in St. Petersburg aktiv sind, für die Angriffe verantwortlich sind. Sie arbeiten für das sogenannte "Hauptrechenzentrum des Generalstabs", das GWC. Die meisten Männer und Frauen in dieser Gruppe seien Personen mit einem IT-Hintergrund, teilweise auch einen Hintergrund in Computer-Spielen, manche waren von 2016 bis 2021 auch in Damaskus stationiert, als Russland in Syrien Raketen einsetzte.

Die Journalistinnen und Journalisten kontaktierten alle Beteiligten, die sie identifizierten konnten, die Mehrzahl wollte aber nicht Stellung nehmen oder legte das Telefon auf, sobald sie wussten, wer am anderen Ende der Leitung war.

Datenspur führt zu verantwortlichem Militär

Im Zuge der Recherche durchsuchte das Team riesige Mengen an Open-Source Daten von Absolventinnen und Absolventen einer der der führenden Militärakademien Russlands, außerdem konnten die Journalistinnen vom äußerst aktiven russischen Daten-Schwarzmarkt profitieren. Durch die Analyse der Metadaten von Telefonanrufen konnten sie schließlich ein Netzwerk identifizieren, das offensichtlich hinter den Raketenschläge steht. Oberst Igor Bagnjuk steht offenbar an der Spitze der für die Raketenangriffe zuständige Abteilung. Der Anfang der 1980er Jahre in Riga geborene Bagnjuk erhielt 2004 seinen Abschluss einer Akademie, die sich auf IT-Systeme für russische Raketen spezialisierte, er war offenbar während der Raketenangriffe in Syrien dort stationiert.

In der Woche vor dem Beginn der jüngsten Angriffswelle stellten die Journalisten vermehrte Aktivität auf Bagnjuks Handy fest. Von 2. bis 9. Oktober spitzte es sich zu. Am 9. Oktober selbst, dem Vorabend der Angriffe auf mehrere ukrainische Städte, rief er elf mal seine Ingenieure an, während in der Zeit zuvor teilweise wochenlang fast keine Kommunikation herrschte – und auch keine intensiven Raketenangriffe. Bis zum späten Abend soll er an diesem Tag in seinem Büro gewesen sein, um 21.15 Uhr kontaktierte er das letzte Mal an diesem Tag seinen Vorgesetzten, den Chef des GWC, General Robert Baranow. Dann machte sich Bagnjuk den Recherchen zufolge auf den Heimweg. Er sollte aber bald wieder zurückkehren: Am darauffolgenden Tag, dem 10. Oktober, kommt er kurz nach 5.30 wieder in sein Büro, wie Metadaten seines Mobiltelefons zeigen. Eine Stunde später begannen die verheerenden Raketenangriffe auf die Städte in der Ukraine. (lew, 24.10.2022)