Eigentlich ist die Sache ja ganz einfach: Man folgt den Schildern. Idealerweise auch den Pfeilen auf einer navigationsfähigen Laufuhr. Oder dem Quäken des Handy-Navis im Rucksack. (Kleine Bitte: Leute, nehmt bitte Kopfhörer – auch wenn ihr Musik hören wollt. BT-Speaker im Rucksack sind mittlerweile echt eine Unsitte.) Außerdem gibt es im Startsackerl ja auch ein Kartenheft.

Eigentlich sollte also alles klar sein. Nur weiß jeder und jede: Sätze, in denen "eigentlich" vorkommt, bedeuten, dass genau das Gegenteil passiert.

Auch bei Wien Rundumadum. Gerade dort.

Darum … aber der Reihe nach.

Foto: Tom Rottenberg

Genau genommen ist Wien Rundumadum eine Wanderung: Man umrundet Wien – auf oder nahe der Stadtgrenze. Ein paar Nasen haben das auch schon exakt versucht. Alle paar Jahre versucht es wieder wer – und ist dann bass erstaunt, wenn er oder sie erfährt, dass das kein "First" ist.

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Wien Rundumadum aber jene von der MA 49, dem Wiener Forstamt, 2005 ausgeschilderte Route, bei der mehrere Stadtwanderwege so zusammengefasst sind, dass man mit ein paar Abstrichen tatsächlich halbwegs genau zu Fuß rund um die Stadt herumkommt.

Foto: Tom Rottenberg

Als Wanderweg ist WRUM so angelegt, dass man die rund 130 Kilometer in mehreren (meist fünf oder sechs) Etappen abwickelt. Das einschlägige Navi-Material ermöglicht es, die empfohlenen Etappen möglichst jedermenschtauglich (aber Obacht: Kinderwagen, Rollstuhl und Gehhilfen sind auf den ersten beiden Teilstücken Ausschlussgründe) mit halbwegs Öffi-nahen Ein- und Ausstiegen abzuwickeln. Gute Sache.

Nur: Wer sagt eigentlich, dass man die sechs Etappen nicht auch in einem angehen kann? Und zwar laufend?

Gedacht, gesagt, getan: Seit 2014 gibt es Wien Rundumadum auch als organisierten Laufevent: Ganz (130 k), Gedreiviertelt (88), Halb (61), als Marathon- oder auch Staffelbewerb.

Foto: Tom Rottenberg

Im Vorjahr waren meine Vereinsbuddies und ich da als Staffel dabei. Wir hatten so viel Spaß, dass wir schon im Ziel beschlossen, heuer wieder mitzuspielen. Dass es heuer zwei Staffeln sein werden, ist fein. Ich selbst kann aus ein paar hier irrelevanten Gründen nicht mitlaufen.

Aber als "Begleitpony" werde ich eines der Teams ziemlich sicher am Rad durch "Mordor" begleiten: Vermutlich ab der Lobau oder der Seestadt, spätestens aber ab dem Einsetzen der Dämmerung.

Foto: Tom Rottenberg

Transdanubien ist nämlich tückisch. So flach und weit und einfach das Terrain hier auf dem Plan aussehen mag, so "g'fernst" ist jener Landstrich, von dem meine AHS-Lateinprofessorin stets sagte, dass die Römer "schon wussten, wieso sie nicht über die Donau gingen". (Direktorin des Floridsdorfer "Schulschiffes" wurde sie später aber angeblich dennoch.)

Speziell im Dunkeln sieht hier ein Feldweg aus wie der andere. Der Wind kann im Herbst kalt und heftig pfeifen – und wer glaubt, dass man sich trotz Navi-Uhr nicht verirren kann, den belehrt die WRUM-Tracker-App eines Besseren: Auch wir warteten im Vorjahr recht lange auf einen "Versprengten". Obwohl der perfekt ausgerüstet war. Aber am Bisamberg war halt ein Schild weg oder unsichtbar, und was die Uhr anzeigte, war "unlogisch". Zumindest vor Ort.

Foto: Tom Rottenberg

Also stand bei uns diesen Sonntag "Streckenkunde" auf dem Laufplan. Weil es immer hilfreich ist, eine Route schon gelaufen zu sein. Und zwar bei Tageslicht. Erst recht, wenn die Gegend an einigen Stellen hammerschön ist: Die Blicke über die herbstlichen Weingärten des Bisamberges auf Wien gehören zum Schönsten, was diese Stadt zu bieten hat.

Und auch wenn der Bisamberg weder hoch, geschweige denn alpin wirkt, sind die Routen hier stellenweise technisch anspruchsvoll. Auch bei Tag.

Foto: Tom Rottenberg

Andere Ecken und Regionen hier "drüben" beläuft man aber tatsächlich besser bei schwarzer Luft. Zumindest dann, wenn man beim Laufen nur Postkartenblicke und Traumperspektiven vor Augen gesetzt bekommen will: Floridsdorf und die Donaustadt sind "Flächenbezirke" – und in der Fläche findet man vieles, was die "dichte" Stadt zwar dringend braucht, aber nicht sehen will. Und an ihre Peripherie schiebt.

Foto: Tom Rottenberg

Da Wien wächst, kommt nun "die Stadt" immer öfter hier heraus: Sich das Wechselspiel zwischen letzten Gstetten und Stadtbrachen, Qualtinger-Hohlwegen, Lagerplätzen, Industrie- und Gewerbezonen, Grün- und Erholungsräumen, landwirtschaftlichen Flächen und alledem zuleiberückenden Wohnflächen samt Infrastruktur zu erlaufen, ist hochspannend.

Foto: Tom Rottenberg

Auch weil sich beim Laufen weit mehr "Bühnenbilder" als beim Wandern aneinanderreihen und man im Gegensatz zum Radfahren langsam genug ist, um beim genaueren Hinschauen die Bewegungsform nicht ändern zu müssen. Gerade diese Homogenität fügt Bild an Bild, Moment an Moment, Impression an Impression. So, dass mir außer der abgeschmackten Metapher von der Perlenschnur gerade nix Originelleres einfällt.

("Geht's bitte, do geht do a jeda durch – des warate ja no schena", sagte die Anrainerin mit dem Hund, als wir aufs "Durchgang verboten"-Schild zeigten.)

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich schafft so eine Runde auch neue Bilder. Wer Wien Rundumadum läuft oder wandert, erlebt Transdanubien auch als Reitrevier: Pferdekoppel reiht sich an Reiterhof reiht sich an Übungsplatz. Und wer glaubt, dass manche Hundebesitzer ihre Tölen nicht im Griff haben, ist noch nie einem von seinem hypernervösen Hottehü überforderten Horse-Sitter auf einem Spazierweg begegnet, auf dem allem Anschein nach niemand mit Passanten rechnet: Das Ross ging in der Sekunde durch. Mehr als Stehenbleiben kann man als Spaziergänger (oder Läuferin) aber kaum.

Foto: Tom Rottenberg

Spannend ist aber auch das "Learning", wo überall die WRUM-Markierungen angebracht sind – und wo nicht: Tagsüber blitzen die kleinen Taferln meist gut sichtbar aus Busch- und Strauchwerk hervor, wenn sie nicht unmittelbar am Wegrand montiert sind. Man muss halt wissen, wonach man Ausschau hält. Im Dunkeln sind sie dann aber oft unsichtbar, weil die (verpflichtend mitzuführenden) Stirnlampen sie verfehlen.

Foto: Tom Rottenberg

Freilich: Gerade dort, wo man sie dringend brauchen würde, sind die Wegmarkierungen dann oft wirklich nicht da. Und natürlich exakt dort, wo das Bauchgefühl sagt, dass das Uhren-Navi falsch liegen muss.

An dieser "Kreuzung" im Nirgendwo der Felder zwischen Süßenbrunn und Gerasdorf etwa.

An dieser Ecke hatte mich im Vorjahr in der Nacht am Rad auch das Bike-Navi zunächst in die Irre geleitet – und nicht nur mich: Von hier sah ich damals Lichtpunkte in jeder Richtung herumirren.

Foto: Tom Rottenberg

Warum das so war, fand ich erst dieser Tage heraus: Ich hatte die offizielle Route von Alltrails (der Routen-App der Veranstalter) nach Komoot exportiert. Geschmackssache: Ich persönlich plane und bearbeite Routen halt dort lieber. Von Komoot gehen Strecken bei mir dann auf Garmin Connect oder Wahoo. Fertig.

Daran, dass ein Radcomputer Lauf- oder Wandertracks automatisch auf Bike "übersetzt", denkt da wohl niemand. Im Normalbetrieb ist das ja auch egal.

Aber ändern Sie einmal ganz bewusst am Schirm daheim die Disziplin: Sie werden sich wundern, was (selten, aber doch) sogar bei Streckendetails passiert, wenn Sie zwischen "Laufen" und "Wandern" wechseln.

Foto: Tom Rottenberg

Bei Tag ist das alles easy. Da erkennt man auch Strecken wieder, die man bei Nacht (okay: es war einfach nur dunkel) auch schon gefahren oder gelaufen ist – und staunt: Dass links hinter der Hecke neben der Schotterpiste von Bild 5 der Marchfeldkanal liegt, hat im Vorjahr wohl nur bemerkt, wer hier öfter unterwegs ist.

Später, auf dem Weg Richtung Bisamberg, funkelte zwar irgendwann die Wiener Skyline zu mir herauf – aber ich hatte damals nur Augen für die Löcher und Steine im Boden: Ich war auf der Suche nach "meinem", seit einer halben Stunde überfälligen, Läufer.

Foto: Tom Rottenberg

Auch der Tracker vom Veranstalter war da wenig hilfreich. Der diente primär als Startnummer und für die nachherige Kontrolle. Als echter Livetracker war er aber überfordert. Das System fror immer wieder ein: Laut diesem Tool campierte gegen Mittag ein Dutzend Läuferinnen und Läufer ausdauernd in der Lobau, hielt Séancen auf Feldwegen, picknickte in den Weinbergen und genoss die Aussicht – oder weinte dort still und einsam.

Livetracking via App und eigenem Handy? Unzuverlässig: Hier hat das Handynetz stellenweise echte Löcher.

Foto: Tom Rottenberg

Gefährlich oder ansatzweise unsicher ist das alles keine Sekunde. Die einzige "Gefahr" besteht darin, im Dunkeln umzuknöcheln um dann halt auf allen vieren auf die Stadt zukrabbeln zu müssen.

Spannend ist es aber allemal, in so einem Umfeld zu erleben, wie hilfs- oder orientierungslos viele Menschen ohne die heute selbstverständlichen Navi-Tools sind. Zu beobachten, wie viele Leute den eigenen Standort ohne GPS-Hilfe auf einer Landkarte nicht finden – und nicht einmal fragen, was außerhalb des Displays wohl noch sein könnte.

Foto: Tom Rottenberg

Aber in Wirklichkeit lernten wir etwas ganz anderes.

Natürlich ist das Gefühl, das man bei so einer Strecken- oder Etappenerkundung für Weg, Gegend und Ort entwickelt, wichtig. Auch weil man bei Tag anders spielt als bei schwarzer Luft.

Weil beides schön ist: die Farben des Herbstes genauso wie das Laufen im Dunkeln. Letzteres aber ist aufgrund der Länge und der Dauer von WRUM für fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein zentraler Teil von dem, was diesen Herbstlauf ausmacht.

Foto: Tom Rottenberg

Aber da ist noch etwas.

Läufe wie dieser erzählen nämlich auch andere Geschichten.

Von Licht und Schatten – auch von den angeblich "unattraktiven" Ecken und Zonen. Den hinteren, abgelegenen Winkeln.

Die sind wichtig. Weil das "Schönbild" allein lediglich für die Ansichtskarte reicht: Die mag hübsch sein, aber was sie zeigt, weiß man meist auch, ohne hinzusehen. (Tom Rottenberg, 25.10.2022)


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Respekt, Oida!

Foto: Tom Rottenberg