Wenn Klimaaktivisten Kunstwerke angreifen ist das ein Akt der Ignoranz, der einen fatalen Symbolismus erzeugt, schreibt Schriftsteller und Museumsaufseher Constantin Schwab im Gastkommentar.

Aufmerksamkeit um jeden Preis? Aktivismus von Just Stop Oil vor einem Van Gogh in der Londoner National Gallery.
Foto: IMAGO/ZUMA Wire

Es ist ein jüngeres Phänomen (im wahrsten Sinne, viele der Beteiligten waren gerade noch Jugendliche), es kann in England, in Deutschland, in den Niederlanden, es kann überall auf der Welt passieren. Die Sicherheitsfirma hat uns Museumsaufsichten schon vor Wochen gewarnt, in einer alarmierenden Rundmail – Achtung vor den aktionistischen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich an Kunstwerken festkleben, um Aufmerksamkeit zu erregen, für – ja, wofür eigentlich?

Es begann mit Sekundenkleber, mittlerweile werden Lebensmittel über Meisterwerke geschüttet. In ein paar Monaten wird man sich noch an die Bilder erinnern, aber die konkreten Anliegen, die Ziele des Aktivismus, wer kann sie dann noch benennen?

"Der heldenhafte Mut, sich mit dem eigenen Leib für die größere Sache einzusetzen, endet spätestens vor den Museumstüren."

Wenn die Aktion größer ist als die Botschaft dahinter, dann ist der Aktivismus irgendwo falsch abgebogen. Wenn es nur noch darum geht, die absolute Aufmerksamkeit zu erringen, egal wie, dann ist die Gefahr wirklich real – nicht primär, dass ein unbezahlbares Kunstwerk beschädigt wird (das Panzerglas bewahrt sie heute vor den klebrigen Pranken), sondern die Gefahr, dass sich eine heroische Protestbewegung zur Rettung der Welt hoffnungslos verrannt hat und letztlich nur das Gegenteil von dem erzielt, was sie erreichen will.

Der heldenhafte Mut, sich mit dem eigenen Leib für die größere Sache einzusetzen, endet spätestens vor den Museumstüren; es ist heldenhaft, sich einem Panzer in den Weg zu stellen, heldenhaft, sich an einen Baum zu ketten, um einen Bulldozer zu stoppen – doch wer ein Gemälde betatscht und beschmiert, ist nie mehr als ein Vandale, egal, welche Gründe dahinterstehen.

Kunst oder Leben?

Kürzlich in der National Gallery, London. Zwei blutjunge Aktivistinnen schütten den Inhalt einer Dosensuppe über Vincent Van Goghs Sonnenblumen, kleben sich daraufhin an der Wand fest und fragen in die laufenden Handykameras, was schützenswerter sei – Kunst oder Leben? Auf ihren T-Shirts lässt sich ein Boykott gegen Öl ablesen, doch der wird untergehen in der Berichterstattung, der Debatte, die in den nächsten Tagen folgt, ein sinnloses Für und Wider, ob solche Protestformen der Sache dienlich seien; wie könnten sie es, wenn sich die Öffentlichkeit gar nicht erst für die Sache interessiert, sondern nur für die Aktion (im Übrigen wurde der Rahmen beschädigt), genauso gut könnte man in den Tiergarten gehen und einen Eimer Lebensmittelfarbe ins Pinguinbecken schütten, um gegen die prekären Arbeitsbedingungen bei Apple zu protestieren.

Wirklich absurd ist aber diese pathetisch eingeworfene, ans falsche Gewissen appellierende Frage: "Kunst oder Leben?" Kunst ist Leben, sie ist Ausdruck jeder Lebensgemeinde, sie bringt Menschen zusammen, ist das Zeugnis einer Kultur, die vom Menschen erschaffen wurde, und deshalb ist sie genauso schützenswert wie der Mensch selbst – Kunst oder Leben, das ist keine Tresenfrage, "Kuhmilch oder Soja?", nein, Kunst als solches ist ein Wert, der dem Menschen innewohnt, der zum Aufbau seiner Kultur und Identität führt: Die Kunst nicht zu beschützen bedeutet, den Menschen nicht zu beschützen. Und ich als Aufsicht, die neun Euro die Stunde verdient, würde mein letztes Diensthemd geben, um einen Van Gogh zu beschützen. Weil ich die Kunst liebe. Nur leider kommen wir Aufsichten immer zu spät, können immer nur melden, was wir nicht fassen können.

Fataler Symbolismus

In jedem Krieg werden Kunst- und Kulturgüter bewusst zerstört, um die Identität und Geschichte des selbsternannten Feindes zu vernichten, sie auszulöschen. Wenn eine Protestbewegung mit durchaus heroischen Zielen ein Kunstwerk angreift, dann erzeugt das einen fatalen Symbolismus – noch dazu bei der geschmacklosen und völlig unbedarften Wahl des in London attackierten Gemäldes: Sind die Sonnenblumen doch ein Volkssymbol der Ukraine, die sich gerade heldenhaft gegen einen russischen Terrorismus wehrt, der ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Menschen nicht akzeptiert, sie brutal und feige angreift, sie vernichten will, seit acht Monaten schon.

Es ist ein schmaler Grat von Heroismus zu Terrorismus, und Angst in einem öffentlichen Museum zu verbreiten (denn jede öffentliche Attacke erzeugt Angst) bedient nur Letzteres. Eine Attacke auf ein Kunstwerk ist eine Attacke auf alle, die das Kunstwerk lieben; sie ist eine Attacke auf Unschuldige, schreit verzweifelt nach der größeren Aufmerksamkeit, egal wie. Wirklich heroisch wäre es, den wirklichen Drahtziehern, den Ölbaronen, den Korrupten, den Diktatoren und Zerstörern dieser Welt eine Suppe mitten ins Gesicht zu schütten. Den Inhalt einer Konservendose über ein Meisterwerk des Impressionismus und Zeugnis menschlicher Kultur zu schütten, ist nur ein Akt der Ignoranz, stupide, destruktiv und – wie alle Spielarten des Terrorismus – ziemlich feige. (Constantin Schwab, 31.10.2022)