Im Gastblog schreibt Sexualberaterin Nicole Siller über die Frage, wieso die eigentliche Lust oft zurückgehalten wird – und was passiert, wenn man den Ernst beiseitelässt.

Viel Freude soll Sexualität machen, höre ich oft und immer wieder. Aber wie kommen wir dahin? Was tragen wir selbst dazu bei, damit unsere Sexualität lebendig bleibt, ja vielleicht sogar spannend und immer wieder wirklich Spaß macht? Und was alles tun wir bewusst oder unbewusst, um genau das zu verhindern?

Der Ernst beim Sex

Ich höre von ganz unterschiedlichen Herausforderungen, die viele Menschen nicht aussprechen. Aus Scham? Schuld? Weil wir einander nicht verletzen wollen? Weil wir uns nicht trauen, uns wirklich mit unserer Lust und unseren Fantasien, unseren Träumen zu zeigen? Weil wir unsere wirklichen Sehnsüchte als "schmutzig", "schlimm" oder "böse" einordnen oder Angst haben, dass andere das tun?

Auch reden wir gar nicht gerne über die landläufig als "schwierig" eingeordneten Punkte, das lassen wir lieber aus. Wir haben quasi nicht gelernt, beim Sex Verbesserungsvorschläge zu machen oder auch einfach zu sagen, was uns gefällt oder eben auch nicht.

Oft gibt es beim Sex Wünsche, die nicht artikuliert werden – zum Leidwesen für beide Beteiligten.
Foto: https://www.istockphoto.com/de/portfolio/brizmaker?mediatype=photography

Da gibt es die Erwartung, dass wir einander wortlos verstehen. Gleich. Dauerhaft. Ein Märchen? Oft halten wir auch unsere geheimsten Sehnsüchte und Fantasien zurück. Ich arbeite hauptsächlich mit heterosexuellen Menschen, deshalb hier Beispiele aus dieser Welt.

Männer erzählen immer wieder: "Sie kann meinen Penis nicht so angreifen und stimulieren, wie es mich erregt" oder, diese Formulierung habe ich unlängst von einem Klienten gelernt, "Sie macht nur den Seestern!", was so viel bedeutet, wie dass sie recht bewegungslos daliegt, alle Viere von sich streckt und machen lässt. Mancher Mann wünscht sich auch mehr Einladung, möchte begehrt werden, andere möchten endlich auch mal verführen.

Von Frauen höre ich immer wieder: "Er spürt nicht, wie mein Körper, meine Erregung, meine Klitoris auf ihn reagieren, er rubbelt irgendwie, oft daneben oder auch zu intensiv." Viele Frauen fühlen sich unter Druck, sagen, sie haben das Gefühl, schnell zum Höhepunkt kommen zu müssen, das ist nicht ihr Tempo. Andere erzählen auch, er solle sich ein bisschen mehr um seinen Körper kümmern, hygienisch oder auch was Fitness betrifft. Das sagt auch mancher Mann.

Manchmal ernte ich unverständliche Blicke, wenn ich nach sexuellen Möglichkeiten, einem Repertoire frage. Oft höre ich, da gibt es eigentlich genau ein "Skript", einen Ablauf, der wahrscheinlich auch mal ganz super war, aber dauerhaft nicht die Leidenschaft forciert. Zu vieles ist absehbar. Ganz zu schweigen von Träumen, Fantasien und Inszenierungen, ob wir sie Kinks, Fetische oder anders nennen. Denn da "dürfen" wir vieles nicht, denn "das tut man nicht!" Und immer noch zu viele von uns verlassen sich darauf, dass Sex von selbst super, also leidenschaftlich, läuft oder eben nicht. Wenn er nicht super läuft, kann es sehr gut daran liegen, dass wir uns gar nicht zeigen, wir halten viel von uns selbst zurück.

Darf es auch leicht gehen? Erzählungen aus der Praxis

Ich begleite und ermutige erwachsene Menschen jeden Alters bei ihren Fragen, Ängsten, ihrem Frust, ihren Unsicherheiten, wenn es eben nicht so läuft, wie gewünscht, bei allen möglichen Themen rund um Sexualität. Ein paar große Themen gibt es immer wieder:

  • Überhaupt mal ganz entspannt und ehrlich über die eigene Sexualität zu reden und hier die passenden Worte zu finden.
  • Den Mut zu haben, sich zu zeigen, ob mit oder ohne spezielle Neigungen.
  • Es als selbstverständlich zu nehmen, dass die andere Person wissen oder riechen muss, wonach einem gerade zumute ist.
  • Dass man stattdessen durchaus zeigen oder sagen kann, was man möchte.
  • Die Kunst zu erlernen, sich selbst und auch den Sexpartner oder die Sexpartnerin gut zu spüren, in sexuelle Resonanz miteinander zu gehen.
  • Die eigene Erregung oder die der anderen Person zu gestalten.
  • Mittendrin Fragen zu stellen oder – wie etwa im BDSM üblich – Zeichen auszumachen, wenn mehr oder weniger von etwas gewünscht wird oder aufgehört werden soll.
  • Anzusprechen, was wir wirklich wollen, und auch zu sagen, was uns weniger gefällt.
  • Statt der oder dem anderen zu sagen: "Du kannst das nicht", zu zeigen wie es gut ist.

Frust statt Lust

Wir können aus ganz unterschiedlichen Gründen Freude an Sexualität, auch einfach Freude am bisherigen Sex verloren haben. Vor allem, wenn er unspannend oder zu einer Belastung geworden ist. Oft passiert das auch deshalb, weil wir eben nicht den Sex leben, nach dem wir uns wirklich, wirklich sehnen, der uns richtig guttut. Oft, weil die Skripten von Sexualität in unseren Köpfen oder bisherige Erlebnisse eben nicht wirklich befriedigen, uns nicht wirklich entsprechen. Weil wir tun, was wir glauben, tun zu müssen, statt zu spüren, was wir uns aktuell erregend vorstellen und dies dann auch zu leben.

Lernen zu staunen und zu entdecken

Wie wäre es, wenn wir wieder lernen zu staunen, was sich alles verändert und wie es sich anfühlt? Wie wäre es, die eigenen sexuellen Skripten immer wieder weiter zu schreiben? Unsere Sexualität verändert sich ja ein Leben lang, da braucht es von Zeit zu Zeit Modifizierungen. Das Schöne ist, Sexualität kann jederzeit mit einer (gemeinsamen) Entscheidung und Ehrlichkeit sich selbst und einander gegenüber wieder aktiviert beziehungsweise freudiger gestaltet werden. Ein essentielles Hilfsmittel sind gute Gespräche, damit meine ich einerseits von sich zu erzählen, aber auch zuzuhören und mit offenem Mindset und offener Haltung im Herzen zu lauschen, nachzufragen, ob das, was wir verstanden haben, so gemeint war.

Wenn sich wieder Antworten auf Fragen finden, die ungefähr lauten könnten: "Was ist, war und könnte das Schöne, Freudige am Sex sein, was erregt mich, wann und wie spüre ich mich selbst gut?" oder auch: "Was fehlt mir, wonach sehne ich mich und wie könnte ich dich dazu einladen?", vielleicht auch: "Was möchte ich einfach mal probieren?", dann braucht es oft nicht mehr viel und ein leichtes Glitzern in den Augen, eine Erinnerung oder eine Sehnsucht tauchen wieder auf.

Raus aus eingefahrenen Mustern

Warum warten, bis es frustrierend, eintönig oder verkrampft ist, zu einem Machtspiel geworden ist? Warum das zurückhalten, was uns wirklich antörnt oder wir einfach mal probieren wollen, ob es das wirklich tut? Warum verstecken wir uns voreinander, bis es diese eine Zurückweisung zu viel war und wir es womöglich miteinander sein lassen? Warum lagern manche ihre Fantasien aus der Beziehung aus ohne zu erkunden, ob womöglich daraus gemeinsame Genüsse werden?

Für frischen Wind und Freude braucht es oft gar nicht viel, denn im Grunde sehnen ganz viele von uns sich immer wieder nach lustvoller, liebevoller Nähe, danach, sich selbst wirklich intensiv und lustvoll wahrzunehmen, am liebsten mit dem Menschen, der schon da ist. Natürlich möchten viele Menschen in jedem Alter gute Sexualität, diese Frage beschäftigt Menschen innerhalb einer Beziehung und Singles gleichermaßen.

Was es braucht, sind Neugierde, ein bisschen Pioniergeist, Mut, Wissen, Ideen, Aktivität und Kommunikation. Ein klares Commitment und auch natürlich Übung, denn von alleine wird es keine wirklich lustvollen Veränderungen hin zum Hochgenuss geben. Authentische und erotische Gespräche können da schon echte "Lustpillen" sein.

Authentizität und Hingabe ebenfalls

Wer sich erlaubt, neugierig auf sich selbst und einander zu bleiben und immer wieder Raum für Entdeckungen zu öffnen, spüren kann was er oder sie will und in die eigenen lustvolle Bedürfniswelt einladen kann, hat klare Vorteile. Vor allem, wenn die Partnerin oder der Partner auch gewillt ist, Signale lesen zu wollen. Ja, da steht oft Angst im Weg, die wahren erregenden Bedürfnisse zu zeigen. Auch hohe Erwartungen, die wir an uns selbst haben, sind wie angezogene Bremsen der Lust. Das Gefühl, Bremsen zu lösen, ist sehr befreiend, in jeder Hinsicht.

Können wir einander bitte endlich die ehrliche Aufmerksamkeit schenken und Zeit nehmen, die es braucht, damit alle Beteiligten wirklich hingebungsvoll Erregung genießen können? Wenn die Lust an der Lust des Partners oders der Partnerin selbst große Lust bereitet, gelingt dies ganz einfach. (Nicole Siller, 2.12.2022)