Ein paar einsame Fans vor vielen freien Plätzen sind zu Beginn der WM-Matches Standard. Dass es in der zweiten Hälfte meist voller ist, ist kein Zufall.

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Du musst warten. Meistens machen sie nach etwa 35 Minuten auf", sagt Suresh. Er steht vor dem Stadion Al Janoub, Japans Weltmeisterschaft wird an diesem Abend zu Ende gehen. Suresh wartet wie dutzende andere Fans ein paar Meter vor der Sicherheitsschleuse und beobachtet die Arbeiter. Ein Ticket hat er nicht, er wird den herumspazierenden Händlern auch keines abkaufen. Suresh braucht kein Ticket. Hoffentlich.

Diese WM hat ein Zuschauerproblem. Nur bei Spielen der allerpopulärsten Teams füllen sich die Ränge rechtzeitig, oft ist die Arena erst in der zweiten Hälfte voll – wenn überhaupt. Anfangs wurde das noch dem Verkehr zugeschrieben, mittlerweile ist klar: Wären nur zahlende Fans im Stadion, wären die Fernsehbilder von Katars Turnier ein Debakel.

Sureshs Freund erzählt, dass er beim ersten Achtelfinale war, wohlgemerkt als zahlender Kunde. "Nach 30 Minuten haben sich drei Leute ohne Tickets neben mich gesetzt." Das Duo war auch selbst schon mehrfach gratis im Stadion – so wie viele andere, mit denen Der STANDARD sprach. Auch drei junge Männer aus Ghana warten vor dem Stadion, sie haben schon viele Matches umsonst gesehen. "Im Al Bayt und im Al Janoub machen sie immer auf", sagt einer. Auch für die anderen Arenen findet man Zeugen. Wer die katarische Obrigkeitsfürchtigkeit kennt, weiß, dass hier niemand auf eigene Faust handelt.

Offizielle Auslastung: 96 Prozent

Offenbar wird je nach Verfügbarkeit jeder ins Stadion gelassen, der eine Hayya Card hat – manchmal vor dem Anpfiff, meistens später. Durch die Hayya-Beschränkung dürfen nur jene rein, die reguläre Karten für ein WM-Spiel gekauft haben. Wohl auch deshalb sind unter den etwa 150 Hoffnungsvollen vor den Toren des Al Janoub nur vier, deren Kleidung sie der ärmeren Gastarbeiterschicht zuordnet.

Gratiseintritt ist nicht verwerflich, doch die Praxis wirft Fragen auf. Wie können hunderte, manchmal tausende Sitze leer bleiben, obwohl Tickets offiziell ausverkauft sind? Warum brüstet sich die Fifa mit einer Stadionauslastung von 96 Prozent in der Gruppenphase? Diesbezügliche Anfragen des STANDARD blieben bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Der Kartenkauf ist bei Events wie diesen gewöhnlich personalisiert, der Weltverband müsste also wissen, ob Expats auf Verdacht gehamstert haben, ob es sich um Sponsorentickets handelt oder ob sich Tickethändler verzockt haben.

Überfluss

Der freigiebige Vorverkauf für alle Einwohner Katars dürfte teilverantwortlich sein. "Ich habe Tickets für das Match hier, aber ich habe Angst, dann Brasilien zu verpassen", sagt ein älterer Mann mit Brasilien-Flagge. Er steht unschlüssig vor dem Stadion, während Japan und Kroatien sich einen Viertelfinalplatz ausspielen. Auffällig viele kommen zu spät oder gehen lange vor dem Abpfiff – sie haben einfach so viele Tickets, dass ein Match nichts Besonderes mehr ist.

Vor dem Al-Janoub-Stadion einigt man sich in der 35. Minute auf ein Einlass-Gate, aus allen Richtungen laufen die Wartenden zusammen. Rein darf keiner. Kurz nach Wiederanpfiff werden fünf Glückliche durchgelassen, dann machen die Sicherheitskräfte doch wieder zu. Weiterwarten. In der 63. Minute ist offiziell Schluss. Die Sicherheitskräfte rufen viel auf Arabisch, zwischendurch ist "Finished!" herauszuhören. Suresh und sein Freund sind da schon weg. Mag sein, dass die Zeit der Gratiseintritts vorbei ist, die WM-App sendet am Dienstag eine Benachrichtigung: Nur mit Ticket zum Stadion kommen!

Gönner aus Ghana

Der verspätete Gratiszugang war nicht die einzige Strategie dieser Art. Die New York Times berichteten von 20 Bussen zu je 50 Mann, die eine Baufirma zu Katars Match gegen die Niederlande schickte. Die Arbeiter hätten am Vorabend erfahren, dass sie gratis zu dem Spiel und bis zu fünf Menschen mitbringen durften – am Ende bekamen einige so keinen Platz mehr. Katars dauerlärmender Ultras-Block wurde aus dem Libanon importiert.

Auch andernorts konnte sich Katar auf fremde Hilfe verlassen, vor Ghana-Matches verteilte jemand Tickets an die Fans. Laut diesen war der Gönner von der ghanaischen Regierung. Als der Kartensegen vor dem Entscheidungsmatch gegen Uruguay ausblieb, stürmten einige Fans einfach durch die Sicherheitsschleuse. Die Journalistin Kathryn Batte filmte die turbulenten Szenen für die Daily Mail, danach nahmen ihr Sicherheitskräfte das Handy ab und zwangen sie, das Video zu löschen – da hatte sie es allerdings schon an ihre Chefin geschickt. Menschen, die ohne Ticket und Sicherheitscheck ins Stadion laufen – das sind Bilder, die Katar nicht zeigen will. Das gilt aber offenbar auch für die leeren Stadien. (Martin Schauhuber, 8.12.2022)