Im Gastblog zeigt der Biologe Georg Winter, wie durch ein besseres Verständnis von Wirkstoffen Krankheiten gezielter – oder überhaupt – behandelt werden könnten.

Tragische Zufälle und wichtige Durchbrüche liegen oft sehr knapp beisammen. In der Arzneimittelforschung gibt es wenige Beispiele, die dieses Paradoxon treffender beschreiben als die Geschichte des Wirkstoffes Thalidomid. Unter dem Namen "Contergan" wurde Thalidomid 1957 als Schlaf- und Beruhigungsmittel rezeptfrei auf den deutschen Markt gebracht und oft von Schwangeren eingenommen. Erst Jahre nach der Zulassung wurde festgestellt, dass die Einnahme von Contergan während der Schwangerschaft zu dramatischen Missbildungen bei Neugeborenen führen kann, woraufhin es vom Markt genommen wurde. Tragischerweise waren zu diesem Zeitpunkt bereits tausende Kinder mit Missbildungen geboren worden. Als Reaktion auf diesen Skandal wurden weltweit die Zulassungsprozesse für neue Medikamente radikal umgestellt und transparenter gestaltet. Damit ist die Geschichte von Thalidomid aber noch nicht zu Ende erzählt.

Das Verständnis von Mechanismen auf molekularer Ebene eröffnet neue Anwendungsgebiete. Hier ist zu sehen, wie ein Mitarbeiter Wirkstoffe synthetisiert.
Foto: Laura Alvarez / CeMM

Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass Thalidomid und strukturell verwandte chemische Wirkstoffe eine außerordentliche Effektivität in der Behandlung von Blutkrebsarten aufweisen. Aufgrund der außergewöhnlichen Effektivität wurden diese Wirkstoffe unter strengen Auflagen für die Behandlung von verschiedenen Krebsarten zugelassen. Zu diesem Zeitpunkt war der genaue Wirkmechanismus aber noch immer unbekannt. Erst Jahre später wurde dieser Mechanismus Stück für Stück aufgeklärt. Wir wissen jetzt, warum diese Substanzen potente Krebsmedikamente sind und warum sie zu den tragischen Missbildungen bei Neugeborenen geführt haben. Dieses mechanistische Verständnis hat in den letzten Jahren den Grundstein für eine Revolution in der Wirkstoffforschung gelegt und verspricht eine Vielzahl an neuen Therapien hervorzubringen. Neue Therapien, die vollkommen anders wirken und uns – zumindest teilweise – erlauben, grundlegende Regeln der Pharmakologie neu zu definieren. Aber was steht dahinter beziehungsweise wie wirkt Thalidomid?

Einfluss auf Wachstum von Krebszellen

Die meisten konventionellen Wirkstoffe binden an ein Eiweißmolekül (Protein) in oder an der Oberfläche von Zellen unseres Körpers. Diese Wirkstoffbindung kann das Protein entweder aktivieren oder (häufiger) blockieren. Thalidomid bindet an ein Protein mit einer speziellen Funktion, einer sogenannten E3-Ligase. E3-Ligasen erkennen schadhafte Proteine in Zellen und markieren sie für einen zielgerichteten Abbau. Schadhafte Proteine werden durch E3-Ligasen also quasi "recycelt". Wenn Thalidomid nun an die E3-Ligase (namens Cereblon) bindet, passiert etwas gänzlich Unerwartetes: Cereblon wird durch Thalidomid nicht gehemmt oder aktiviert, sondern umprogrammiert. Dadurch werden Proteine recycelt, die normalerweise nicht von Cereblon erkannt werden. Die tragischen Missbildungen gehen auf den Abbau eines bestimmten Proteins zurück, welches essenziell für die Frühentwicklung in den ersten Monaten der Schwangerschaft ist. Die Effektivität von Thalidomid im Blutkrebs lässt sich dadurch erklären, dass durch Thalidomid zwei (andere) Proteine abgebaut werden, die wichtig für das Wachstum von Krebszellen sind. Interessanterweise handelt es sich hierbei um Proteine, die man mit gängigen Wirkstoffen überhaupt nicht blockieren könnte.

Dies ist ein Problem, das leider sehr häufig ist. Nur ungefähr 20 Prozent aller menschlichen Proteine können pharmakologisch gehemmt werden. Der über Jahrzehnte hinweg mysteriöse Wirkmechanismus von Thalidomid könnte uns also den Bauplan liefern, wie wir Medikamente der Zukunft gegen fast alle schadhaften menschlichen Proteine entwickeln können: durch die zielgenaue Umprogrammierung unseres Protein-Recyclingsystems.

Zielgerichteter Proteinabbau

Diese Idee begeistert mich nun seit bald zehn Jahren. Während meiner Jahre als Postdoc an der Harvard Medical School konnten wir eine Strategie entwickeln, wie wir Cereblon systematisch so umprogrammieren können, dass andere krebsrelevante Proteine abgebaut werden. Schon nach wenigen Monaten wurde dieses Konzept von beinahe allen pharmazeutischen Unternehmen aufgegriffen. Heute, sieben Jahre später, werden mehr als 15 proteinabbauende Wirkstoffe in klinischen Studien getestet, in Brustkrebs und Prostatakrebs, aber auch in sehr seltenen Tumortypen und auch in Indikationen außerhalb der Onkologie. Wichtig ist anzumerken, dass diese Wirkstoffe nicht mehr die embryonale Frühentwicklung stören. Die Technologie des zielgerichteten Proteinabbaus wird laufend verbessert und verfeinert – sowohl durch Forschung in pharmazeutischen und biotechnologischen Unternehmen als auch durch die akademische Forschung. Seit 2016 leite ich eine Arbeitsgruppe am CeMM, dem Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die sich genau damit beschäftigt. Wir entwickeln Methoden, um neue vielversprechende Wirkstoffe zu finden und zu charakterisieren. Wir wollen dadurch andere E3-Ligasen umprogrammieren, um Therapien noch zielgerichteter und personalisierter gestalten zu können. Parallel dazu untersuchen wir auch, wie Krebszellen Resistenzen gegen diese Art der Pharmakologie entwickeln, um daraufhin Strategien zu entwickeln, die derartige Resistenzmechanismen umgehen können. (Georg Winter, 14.12.2022)