Die marokkanischen Fußballer feiern im Unterschied zu ihren Maskottchen fröhliche Urstände. Die "Löwen vom Atlas" wähnen sich auch gegen Frankreich nicht chancenlos.

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Im Atlas leben längst keine Löwen mehr, dafür lebt der Traum der "Löwen vom Atlas" genannten marokkanischen Nationalmannschaft vom Weltmeistertitel zumindest bis Mittwoch. Dann wartet der auch emotional fordernde Kracher gegen Frankreich.

Wenig überraschend standen das Königreich selbst und die rund fünf Millionen Menschen zählende marokkanische Diaspora nach dem Einzug ins Halbfinale durch das 1:0 über Portugal Kopf. Wie schon infolge des Gruppensieges und nach dem Einzug ins Viertelfinale gerieten Feierlichkeiten aus dem Ruder – vor allem in Paris, Mailand und Brüssel, wo nach Krawallen 60 Menschen festgenommen wurden.

Glückwünsche

Glückwünsche hoher Würdenträger gab es vorwiegend aus der arabischen Welt, aus dem Irak, Bahrain, Dubai, Jordanien, aus Palästina – sowohl von Fatah als auch von Hamas –, Libyen und Ägypten. Sehr wohl wurde der Triumph des Teams von Coach Walid Regragui als Triumph des afrikanischen Fußballs verstanden, der erstmals in der Geschichte der WM einen Halbfinalisten stellt.

"Afrika Weltmeister, ja, es ist möglich, Inschallah", twitterte Mahamat Idriss Deby, der Präsident des Tschad. Ehemalige Superstars des afrikanischen Fußballs stimmten in den Jubelchor ein. "Sie haben es geschafft! Gut gemacht, Marokko, für diese Heldentat. Lang lebe Afrika", schrieb Didier Drogba, der Rekordtorschütze der ivorischen Nationalmannschaft. "Der gesamte Kontinent steht hinter euch", ließ Samuel Eto’o, einst Torjäger und heute Präsident des kamerunischen Fußballverbands, wissen.

Trainer Regragui selbst sah in der Stunde des Triumphes einen ganzen Kontinent endgültig "auf der Landkarte des Fußballs" verewigt. Freilich ist der gebürtige Franzose wie die Mehrzahl seiner Spieler weder in Marokko zur Welt gekommen noch dort in seinem Sport ausgebildet worden. Es liegt auf der Hand, dass kaum ein marokkanischer Teamfußballer in der heimischen Liga engagiert ist. Von den 16 Mann, die im Viertelfinale gegen Portugal eingesetzt wurden, verdienen nur zwei ihr täglich Brot in der Botola, wie die 16 Klubs umfassende höchste Liga im Königreich heißt. In Verteidiger Yahia Attiyat Allah zählt nur einer der beiden unter Coach Regragui zur Startformation.

Acht aus 18

Bei marokkanischen Klubs begonnen haben von den 16 Viertelfinalhelden plus der beiden Stammkräfte Nayef Aguerd und Noussair Mazraoui, die verletzt gefehlt hatten, immerhin acht. In Marokko geboren sind von diesen 18 Mann ebenfalls acht, vier kamen in den Niederlanden zur Welt, zwei in Frankreich sowie je einer in Kanada (Goalie Yassine Bounou, genannt Bono), Spanien (Superstar Achraf Hakimi von Paris Saint-Germain), Belgien und Italien.

Die starke Bindung an die Heimat ihrer Eltern und Großeltern ließ die Stars der Mannschaft wie Hakimi, Mazraoui (Bayern), Hakim Ziyech (Chelsea) oder Romain Saïss (Besiktas Istanbul) für die marokkanische Nationalmannschaft votieren. Andere haben sich angesichts der Konkurrenz in den Geburtsländern dem Löwen-Rudel angeschlossen.

Ohne Verzweiflung

Reüssiert haben sie, weil Regragui in den drei Monaten seit seinem Amtsantritt das Zusammengehörigkeitsgefühl förderte und seine Künstler gemäß ihren Stärken, nicht ihrem Status einsetzt. Bestes Beispiel dafür ist Hakimi, der bei Paris Saint-Germain als Verteidiger gesetzt ist und auch in der Nationalmannschaft nicht plötzlich einen Spielmacher geben soll.

Regraguis Defensivsystem passt auf eine Truppe physisch starker und taktisch bestens versierter Spieler. Wenn die Marokkaner mauern, dann hat das nichts von verzweifeltem Durchhalten in vermeintlich aussichtsloser Situation. Regragui hat "nicht die beste Mannschaft des Turniers. Aber wir sind die Besten, wenn es ums Herz, den Willen und sogar die Taktik geht." (Sigi Lützow, 12.12.2022)